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Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption

Titel: Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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die Knie, dann der Länge nach in den Sand. Zu Füßen des Wagens streckt er sich aus und blickt in den Himmel hinauf, an dem der Schwarm Geier kreist. Es tut nichts mehr weh. Er ist darüber hinweg.

III
    Asche
21
    Seit zweihundert Meilen döst Wendy Sullivan auf dem Beifahrersitz des großen Van vor sich hin. Die Kinder schlafen hinten. Vergeblich hat sie versucht, sie mit Singen und Händeklatschen wach zu halten, aber schließlich haben sie doch die Waffen gestreckt, und seither stellt sich auch Wendy schlafend. Truman sitzt neben ihr am Steuer und starrt unverwandt auf die Straße. Das kann er wirklich stundenlang: Ohne merklich zu zwinkern auf die Straße starren. Das hat Wendy schon immer fasziniert. Auch genervt. Kurz bevor sie eingenickt ist, hat sie ihn zum hundertsten Mal gefragt, wie es möglich ist, so auf diese verdammte Straße zu starren. Sie sind auf dem Rückweg von Mexiko, wo sie eine Woche Ferien gemacht haben, und Truman wollte unbedingt über Salt Lake City fahren, um den Kindern den großen Salzsee zu zeigen. In Idaho kurz nach der Grenze rief Wendy aus: »Das ist doch komplett irr!«
    »Was denn?«
    »Du schaust ständig auf die Straße und bewegst kaum die Augen.«
    »Ja, ich schaue auf die Straße, alles andere ist gefährlich.«
    »Du kannst dir doch ab und zu die Landschaft ansehen, das schadet doch nicht.«
    »Kann man nie wissen. Und was die Landschaft betrifft – mein Gesichtsfeld ist sehr groß, ich kann sie sehen und gleichzeitig auf die Straße schauen.«
    »Im Ernst, Truman, behauptest du wirklich, dass du in der Lage bist, die Straße und die Landschaft gleichzeitig zu sehen?«
    »Ja.«
    »Na gut. Was war auf der Kuppe des Hügels, an dem wir grad vorbeigefahren sind?«
    »Bäume.«
    »Und?«
    »Ein Schild.«
    »Was stand auf dem Schild?«
    »Waldmotel, nach vier Meilen rechts.«
    »Außerordentlich.«
    Einen Moment lang starrten sie beide stumm auf die Straße, dann drehte sich Wendy wieder zu Truman.
    »Und siehst du auch, was für ein Gesicht ich mache? Ohne den Kopf zu bewegen natürlich.«
    »Ja, du bist genervt, du kaust Kaugummi, und dein rechter Mundwinkel ist höher als der linke.«
    »Ehrlich, soll ich dir was sagen, Truman? Total beknackt, dein Trick.«
    Truman zuckte die Achseln. Er ist durch nichts aus der Ruhe zu bringen, nie, vor allem dann nicht, wenn Wendy sich aufregt. Es ist zum Verzweifeln.
    Sie ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann sagte sie: »Und wie machst du das, dass du nicht zwinkern musst? Bist du ein Außerirdischer oder was?«
    »Das stimmt doch nicht, ich zwinkere sehr wohl.«
    »Ha, ha, Truman. Wenn ich dir sage, dass du nicht zwinkerst, dann zwinkerst du nicht!«
    »Aber ich schwör’s dir! Du schaust nur nicht im richtigen Moment.«
    Wieder schwiegen sie eine Weile. Dann drückte Wendy auf einen Knopf an ihrer Armbanduhr, mit dem sie die Stoppuhr anhielt, und sagte: »Truman?«
    »Ja?«
    »Ich habe dich jetzt zwei Minuten beobachtet, und du hast kein einziges Mal gezwinkert.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja.«
    »Tja …«
    »Ist das alles?«
    »Was?«
    »Ich sage, dass du vielleicht ein Außerirdischer bist und womöglich bald deine Verwandlung abgeschlossen hast, und dann wirst du mich und die Kinder mitten in der Nacht umbringen, und dir fällt dazu nichts anderes ein als ›tja‹?«
    »Was soll ich denn sagen?«
    »Weiß ich nicht. ›Ach so‹ vielleicht oder: ›Mist!‹, oder dein Tonfall könnte drohend werden, und du könntest so was sagen wie: ›Du hast einen schweren Fehler begangen, Wendy Sullivan: Niemals hättest du merken sollen, dass ich nicht zwinkere. Jetzt muss ich dich in die Gurgel beißen und dein Blut trinken, und das kannst du dann in einer Fernsehshow erzählen.«
    »Wenn du willst.«
    »Wenn ich was will?«
    »Wenn du willst, kann ich das alles sagen.«
    »Könntest du es sagen und dabei nur für einen Moment den Blick von der Straße nehmen?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Man kann nie wissen. Es kann gefährlich sein.«
    Das waren Trumans letzte Worte. Wendy war wütend und traurig und stellte sich schlafend.
22
    Der große Van ist in Abilene angekommen, einem kleinen Flecken wenige Meilen hinter Portland. Hinten werden die Kinder unruhig. Wendy betrachtet die Linden am Straßenrand, ohne sie wirklich wahrzunehmen. In Abilene sehen alle Häuser einander ähnlich. Modell middle class , einstöckig mit Fachwerk, zaunlosem Vorgarten und betonierten Auffahrten zum Aluminiumtor der Garage.
    Vor der Nummer 12, Portland

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