Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
auf einem menschenleeren Flugplatz im Norden Nevadas gelandet. Er steigt aus und geht auf den Hubschrauber zu, der am anderen Ende der Piste seinen Rotor anwirft. Sein Handy vibriert, auf dem Display erscheint Colemans Nummer. Shepard späht die staubige Straße entlang nach Norden. Er weiß, dass der Mörder hier ganz in der Nähe war. Er nimmt den Anruf an.
»Coleman?«
»Ich hab ihn.«
»Wo?«
»Clint, Idaho. Eine gottverlassene Hütte mitten im Wald, meilenweit von jeder Zivilisation. Kein Strom, kein fließendes Wasser.«
Shepard steigt in den Hubschrauber und nennt dem Piloten die Richtung: exakt nach Norden.
»Was noch?«
»Sein Seelenklempner ist tot, samt Frau und Kindern. Die Polizei hat außerdem Pferdekadaver auf einer Koppel in der Nähe von Clint gefunden. Robuste Arbeitspferde, die Baumstämme ziehen.«
»Todesursache?«
»Wer, der Psycho und seine Familie?«
»Nein, die Pferde.«
»Bauch aufgeschlitzt.«
»Waren die Eingeweide noch drin?«
»Bleib dran, ich frag nach.«
Ein paar Sekunden vergehen, dann meldet sich Colemans Stimme wieder.
»Aufgeschlitzt und ausgeweidet. Der Psycho ebenfalls. Ich bin übrigens ganz in der Nähe. Ich könnte zur Hütte und die Lage erkunden.«
»Auf keinen Fall. Überlass das mir.«
53
Die Hauptstraße von Clint besteht aus schäbigen Lokalen, allerlei Läden, einer Autowerkstatt, einem Schrottplatz, und alles ist unter einer dicken, schmutzigen Schneedecke versunken. Eine Topasmine, die 1917 entdeckt wurde, ist schuld daran, dass Clint wie eine offene Wunde im Wald liegt. Zwei Jahre lang wurden Topase und minderwertiges Gestein abgebaut, dann war die Mine erschöpft. 1919, als die Minenarbeiter und Huren wieder abzogen, entschied der Bürgermeister von Clint, man werde sich nun auf die Holzwirtschaft verlegen, und so kam es, dass die Wunde sich nicht mehr schloss.
Shepard hat sich einen Leihwagen genommen, einen Cherokee mit ausreichend breiten Reifen, um auch auf Forstwegen voranzukommen. Er stellt den Tempomat auf dreißig Meilen in der Stunde ein, zündet sich eine Zigarette an und öffnet das Fenster einen Spalt. Ein eiskalter Lufthauch dringt ein. Langsam fährt er an den gelben Absperrbändern vor dem medizinisch-sozialen Beratungszentrum von Clint vorbei. Davor stehen, schräg geparkt, mehrere Wagen der Bundespolizei. Hinter den gardinenverhängten Fenstern des Zentrums bewegen sich uniformierte Gestalten: Die Patientenakten des Opfers werden durchsucht. Noch mehr gelbe Bänder versperren ein paar hundert Meter weiter den Eingang zu einem alten Haus. Davor sind Blutspuren im Schnee, Kriminaltechniker sichern Spuren. Unter der Regie eines Rechtsmediziners werden die Leichen abtransportiert.
Shepard schaltet das Radio ein und sucht nach einem Sender. Es rauscht und krächzt, dann tönt ein Countrysong aus den Lautsprechern. Als er wieder aufblickt, liegt Clint bereits hinter ihm, im Rückspiegel entschwinden die letzten Häuser, und langsam schließt sich von beiden Seiten her der Wald um die Straße. Hier und dort beugen sich Äste schwer von Schnee und Eis über den Asphalt.
Shepard schaltet das Navigationsgerät ein. Ein paar Meilen weiter biegt er in eine schmale Straße ein. Er folgt dem blinkenden Punkt auf dem Display, und je weiter er sich von Clint entfernt, desto stärker wird das Rauschen aus den Lautsprechern; er schaltet das Radio wieder aus. Irgendwann ist das Asphaltband zu Ende, und er fährt auf einer Forststraße weiter, an deren Ende eine blaue Limousine quer steht. Er hält an, dreht den Motor ab, atmet die kalte Luft. Er lädt seine 9-Millimeter durch und steckt sie sich in den Hosenbund, dann steigt er aus und geht auf den Wagen zu. Er inspiziert ihn: ein paar Papiere auf der Rückbank, auf dem Beifahrersitz eine Landkarte der Gegend. Fußspuren führen vom Wagen in den Wald.
Shepard hört den Schnee unter seinen Stiefeln knirschen, als er den Spuren folgt. Hundert Meter weiter öffnet sich eine Lichtung, und dort steht, am Ufer eines Bachs, die Hütte. Er betrachtet den Kamin und die mit Jute verhängten Fenster. Nichts deutet auf die Anwesenheit eines Menschen hin. Mit gezückter Waffe öffnet er vorsichtig die Tür. Drinnen riecht es nach Öl und verdorbenen Lebensmitteln. Shepard kneift die Augen zusammen. Er erkennt einen verstaubten Tisch mit den Überresten einer Mahlzeit, ein altes Kanapee, einen an eine Batterie angeschlossenen Fernseher, eine Sturmlampe, in der eine Flamme auf kleinster Stufe brennt. Er dreht
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