Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
den Docht ein Stück höher. Die Flamme hinter dem Glas wächst.
54
Das Zimmer ist größer, als Shepard auf den ersten Blick vermutet hat. Am anderen Ende entdeckt er eine aufgeklappte Falltür. Fette blauschwarze Schmeißfliegen schweben brummend herauf, kehren aber, als sie die Kälte in der Hütte spüren, gleich wieder ins offenbar wärmere Untergeschoss zurück. Shepard steigt die hölzerne Treppe hinunter, die ihn in einen viereckigen Kellerraum führt, genauso groß wie der obere. Der Lampenschein wirft zitternde Schatten an die Wände. Umrisse, die er zuerst für ausgestopfte Tiere gehalten hat, erweisen sich bei Licht als tote Hunde und Katzen, die Ezzie erst ausgeweidet und dann an den gespreizten Pfoten an die Wand genagelt hat. Auch tote Eichhörnchen, Igel, Feldmäuse liegen hier, und der Raum ist erfüllt vom Gestank nach Verwesung und Kot. Gegenüber der Treppe liegt etwas auf dem Boden, und ein Schwarm Fliegen stiebt auf, als Shepard sich nähert. Er erkennt einen Pferdekadaver. Auf einem runden Tisch in der Mitte des Raums hat Ezzie etwas mit einem Tuch zugedeckt, und als Shepard einen Blick darunter wirft, sieht er Colemans Kopf. Schrammen ziehen sich über die Wände, parallele Blutspuren, gespickt mit Bruchstücken von Fingernägeln.
Shepard steigt die Treppe wieder hinauf und stößt mit einem Fußtritt die Falltür hinter sich zu. Im Licht der Petroleumlampe inspiziert er den alten Kühlschrank, der mit aufgerissener Tür in der Ecke steht; das Kabel liegt nutzlos daneben. Ezzie hat hier Dutzende Konservendosen jeglicher Größe ordentlich aufgereiht. In einer Salatschüssel schwimmt Tomatensoße mit Inseln aus Schimmel, ein altbackenes Brot liegt daneben. Shepard schließt den Kühlschrank, und dabei sieht er die Fotos, die Ezzie mit kleinen Magnettieren an die Tür geheftet hat: dasselbe Gruppenfoto aus Redemption, das auch er besitzt. Manche Gesichter hat der Riese mit Filzstiftschnurrbärten und -brillen verziert. Daneben hängen weitere Fotos: Barbara in den Straßen von San Francisco. Barbara, die gerade aus einer Boutique kommt. Barbara auf der Terrasse eines Häagen-Dazs-Cafés. Barbara, die raucht, das Mobiltelefon am Ohr. Rechts und links von ihr, hinter leer gegessenen Eisbechern, die Zwillinge mit eisverschmierten Mündern. Shepard streicht ihnen sacht mit dem Zeigefinger über die Lippen. Dann kauert er sich nieder, um die Fotos an der unteren Türhälfte zu betrachten. Barbara über dem Steuer zusammengesunken. Meredith und Monica in ihren Kindersitzen, an ihren Fläschchen nuckelnd. Ezzie hat die Aufnahmen aus ein paar Metern Entfernung gemacht. Monica winkt dem Fotografen noch zu. Auf den weiteren Fotos ändert sich das Licht: Ezzie ist bis zum Einbruch der Nacht geblieben. Er hat Nahaufnahmen der Zwillinge gemacht. Manchmal schlafen sie. Dann wieder hämmern sie aufgeregt an die Scheiben. Ein letztes Foto mit scharfen Blitzlichtkontrasten: Monica drückt ihren Plüschelefanten an sich. Eine dicke schwarze Fliege sitzt auf ihrer Wange, und sie schläft friedlich. Shepard schlägt die Hände vors Gesicht, weicht zurück. Er prallt gegen den verstaubten Tisch und dreht sich um. Zwischen leeren Konservendosen liegt ein Blatt Papier. Er beugt sich darüber und meint fast Ezzies Stimme zu hören, als er die runden unbeholfenen Buchstaben entziffert, die der Riese mit rotem Filzstift aufs Papier gemalt hat:
Wendy,
es ist heute. Es ist kalt. Ich muss weg weil ich hab wieder großen Mist gebaut. Ich hab jetzt immer Hunger. Ich hab dich zigmal angerufen um es dir zu sagen aber du warst nie da. Jetzt schreib ich halt. Das ist alles. Ich fahre in den Norden zurück. Übrigens bin ich Ezzie. Ezechiel Brody so heiße ich.
Shepard richtet sich wieder auf und sammelt sämtliche Fotos von seiner Frau und seinen Töchtern ein. An der Wand neben dem Kühlschrank hat Ezzie mit einem Reißnagel einen abgerissenen Zettel befestigt; darauf steht Wendys Vorname und eine Telefonnummer. Shepard steckt ihn ein und verlässt die Hütte. Draußen ist es Nacht.
55
Auf ein letztes gebrülltes Kommando der Profose hin verlöschen die Lichter im Zellentrakt. Automatisch reduziert sich der Ton aus den Lautsprechern der Monitore, die Ansprachen der Fernsehprediger verebben zu einem Gemurmel. Es ist immer noch entsetzlich heiß, und die Ventilatoren schaffen es kaum, die üblen Gerüche zu vertreiben. Die Geräusche nehmen ab. Neben dem trüben Widerschein der Bildschirme leuchtet nur ein mattes Neonlicht
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