Sühnetag - Patterson, J: Sühnetag - Worst Case
besonders schnell, drehte sich nicht um und schien nicht besorgt zu sein, ob ihm jemand folgte. Versuchte er unauffällig zu bleiben, oder war er einfach nur dumm? Ich tippte auf Letzteres.
Während meiner Verfolgung hielt ich Kontakt mit unserer auf mehreren Ebenen agierenden Überwachungstruppe. Diese kleine Ecke von East Harlem ließ sich kaum kontrollieren. Wir hatten es nicht nur mit dem Fluss, dem Harlem River Drive und einer nahe gelegenen U-Bahn-Station zu tun, sondern die Wohnanlage selbst war vom restlichen Harlem durch einen hohen, steinernen Wall getrennt. Sie war umgeben von Gassen, Einbahnstraßen und Sackgassen, die genügend Möglichkeiten boten, um uns abzuschütteln.
Es war ein Katz-und-Maus-Spiel. Ehrlich gesagt wusste ich nicht, wer gewinnen würde.
Ich war überrascht, als der Schwarze nach rechts abbog, um die Wohnanlage zu verlassen, unter einer Brücke hindurch und an einem Sackgassenschild vorbeiging. Am Ende der kurzen Straße standen einige Autos. Würde er eins davon benutzen?
Nein, am Ende der Sackgasse bog er erneut nach rechts ab, diesmal zu einer Treppe, die ich zuvor nicht bemerkt hatte und die nach oben führte. Ungläubig schüttelte ich den Kopf, als ich sah, wie steil sie war.
Auf dem Weg hinauf wusste ich nicht, ob es meine Schenkel oder meine Lungen waren, die mehr brannten.
» Wir sehen ihn«, meldete das Funkgerät, als der Mann neben einer Zufahrt zum Harlem River Drive das Ende der Treppe erreichte. Etwa hundert Meter nördlich stand auf dem Highway ein ziviler Einsatzwagen der Polizei für den Fall, dass unser Mann versuchte, das Geld auf diesem Wege fortzuschaffen.
Doch das tat er nicht. Er ging an der Zufahrt vorbei und überquerte die Edgecombe Avenue auf Höhe der 155 th Street, als ich oben an der Treppe ankam. Ich dachte, er würde die U-Bahn an der Ecke 155 th Street und St. Nicholas Avenue benutzen, wo ebenfalls eines unserer Teams postiert war, doch wieder überraschte er uns – und kaufte sich an der Straßenecke ein Stück Pizza.
Ein Stück Pizza? War der Kerl nicht mehr ganz dicht? Wie konnte er nur so ruhig sein? Ich sah mir die Fußgänger auf der Treppe zur U-Bahn an. Diese ganze Sache hatte eindeutig etwas Skurriles.
Emily hielt neben mir. Ich stieg ein, und gemeinsam beobachteten wir den Schwarzen, wie er sein Stück Pizza aß und anschließend mit dem Geld weiter Richtung Westen ging.
An der nächsten Ecke passierte es. Irgendwo quietschte ein Motor, und jemand mit schwarzem Motorradhelm und passender Lederkleidung raste mit einem BMX-Dirtbike auf ihn zu.
Ohne anzuhalten und ohne uns die Gelegenheit zu geben, etwas anderes zu tun, als mit offenem Mund zuzuschauen, riss der Motorradfahrer den Koffer, den der Schwarze losgelassen hatte, an sich, raste über eine rote Ampel, rammte unseren Wagen fast von vorne und verschwand auf der 155 th Street in die entgegengesetzte Richtung.
50
Wir standen in die falsche Richtung, als er an uns vorbeisauste. Unser Wagen hüpfte beim Wenden über den Bordstein, während ich die letzten Ereignisse ins Funkgerät brüllte. In dem Moment bog der Motorradfahrer bereits nach links ab, Richtung Norden auf die Amsterdam Avenue, bis er über den Bürgersteig in einen Park fuhr. Als Emily direkt hinter ihm über Bordstein Nummer zwei holperte, hatte ich das Gefühl, die Achse wäre gebrochen.
» Das heißt vermutlich, wir halten uns nicht mehr in angemessenem Abstand!«, rief ich, als wir über die unebene Wiese dem Motorrad hinterherpreschten.
Neben einem künstlichen See blieb er schlitternd stehen und verschwand mit dem Geld zu Fuß zwischen den Bäumen. Ich hatte keine Zeit, » der will uns wohl verarschen« zu rufen, als ich aus dem Wagen sprang.
Ich zwängte mich durch eine Lücke im dichten Gebüsch, musste aber schwer schlucken, als ich sah, wohin der Kerl rannte.
Es war die High Bridge, eine Fußgängerbrücke, die Manhattan mit der Bronx verband. Erbaut Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, hatte das dreizehn Stockwerke hohe Bauwerk ursprünglich als Aquädukt gedient, um die Stadt mit Trinkwasser zu versorgen. Jetzt wurde die verfallene Brücke, die südlich des Cross Bronx Expressway lag, nicht mehr benutzt, und die Stadt überlegte, sie zu restaurieren oder abzureißen.
Der Motorradfahrer hievte sich den Koffer auf den Rücken, sprang auf ein altes Gerüst und begann nach oben zu klettern. Kurze Zeit später schob er sich durch eine Lücke im Maschendrahtzaun und flitzte über das mit Unkraut
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