Sünden der Faulheit, Die
liebste Florence, vergiß mich nicht …
An dieser Stelle wurde der Brief unleserlich. Ein paar Zeilen waren mehrfach durchgestrichen, andere verschmiert. Florence ritzte mit einem Fingernagel über das Papier.
Über Deine Mutter will ich kein Wort verlieren. Sie hat ihre Wahl getroffen und ist da, wohin sie gehört. Gehe Deinen Weg, mein Kind … verzeih mir bitte, ich kann nicht anders …
Florence wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und legte den Brief zurück, doch sie zögerte, das Fach zu schließen. Sie zündete sich eine Zigarette an und paffte erregt den Rauch aus. Dann nahm sie den Brief und zerriß ihn, bis nichts als ein Haufen Schnipsel übrig war. Mit beiden Händen schaufelte sie alle in einen Aschenbecher und hielt das Feuerzeug schräg an den Rand. Ein dünner Faden Papierqualm stieg zur Decke. Erleichtert stand sie auf und ging ins Bad.
Eine schmutzige Dämmerung schob sich vor den Nachthimmel. Es hatte erneut gefroren, und der ganze Hundedreck war konserviert fürs Frühjahr. Bei Siemens und BMW jaulten die Sirenen der Frühschicht. Ohne Pause verließen Generatoren, Motorräder und Batterien die Stadt. Es war Mittwoch.
Siebert entlud seinen Wagen und stapelte die Kisten mit Obst und Gemüse unter dem Schaufenster. Sein Laden war so vollgestellt mit Konserven, Flaschen, Schachteln, Tuben und Gläsern, daß man immer dachte, die ausgeklügelte Konstruktion stürze ein, wenn er etwas aus einem Regal zog.
Auf der anderen Straßenseite im zweiten Stock schlief Bernhard Lacan. Die schwarze Steppdecke war verrutscht, und sein sehniger Oberkörper hob und senkte sich im Rhythmus des Atems. Neben seinem Bett lagen aufgeklappte Taschenbücher: ein dünner Roman von Stanislaw Lem, eine Elvis-Presley-Biographie.
Es klopfte an der Wohnungstür. Die Knöchel einer geballten Faust schlugen vor das Holz. Lacan saß aufrecht im Bett und lauschte, ein Wispern drang durch die Ritzen. Vorsichtig kroch er in den Flur. Eine Diele knarrte verräterisch, und er verharrte in seiner gebückten Haltung. Es klingelte, und dann waren da wieder diese wütenden Hiebe gegen die Tür. Jetzt trat jemand vor den Eingang, zweimal, dreimal. Lacan sprang hoch und riß die Türe auf.
Der Schlag traf ihn unter der Nase und warf ihn in die Wohnung zurück. Benommen fiel er vor eine Wand und versuchte, etwas zu erkennen. In seinem Mund war Blut, Eddie stand mit gespreizten Beinen über ihm und zerrte an seinen Haaren.
»Wollten mal bei dir vorbeischau’n.«
Lacans Hand krallte sich in Eddies Hosenbund, aber als Eddie seine Haare losließ und zurücksprang, taumelte Lacan gegen den Türrahmen. Er wußte, was die Stunde geschlagen hatte.
Mit seiner ganzen Kraft stürzte er nach vorne und zielte auf Eddies häßlichen Kopf. Fingernägel gruben sich spitz in seinen Arm – da war noch einer. Assidertürke löste sich aus dem Halbdunkel und trat Lacan zwischen die Beine. Für einen Augenblick verlor er das Bewußtsein. In seinem Hirn tanzten leuchtend gelbe Ringe und Punkte und Blitze. Das Blut lief warm über sein Kinn, und er hörte Assis Stimme:
»Ick seh mir mal um.«
»Tu dit, Alter«, meckerte Eddie.
Ein pochender, widerlicher Schmerz zog durch Lacans Becken. Er glaubte, er müsse platzen, obwohl Assi glücklicherweise nicht richtig getroffen hatte. Eddie hockte sich über ihn und grinste ihn hämisch an. Sein Mund kroch fast in Lacans Ohr.
»Darf ick die Herren mit’n’ander bekanntmachen: Det is mein Partner Assidertürke«, seine Hand wies über Lacans Schulter in den Raum, »und det is mein juter Bekannter Bernie Lacan.«
»Anjenehm«, raunte Assi aus dem Hintergrund.
Trotz der Dämmerung sah man den Nikotinbelag auf Eddies Zähnen. Er packte Lacan am Nacken und schüttelte seinen Kopf, wie er es aus Filmen kannte.
»Bernie, Bernie, Bernie, du machst uns Sorjen. Wat glaubst du, wie lange wir dir schon suchen? Ick hatte schon jedacht, dir wär wat ssujestoßen. Na ja …«, er gab Lacan einen Klaps und richtete sich auf, »… is ja noch mal jutjejangen.«
Lacans Kopf schmerzte, seine Hände preßten sich vor den Unterleib, dessen Nerven verrückt spielten. Eddie und Assidertürke schlichen durch die Wohnung. Eddie stöberte in den Unterlagen auf Lacans Schreibtisch. Er hielt ein Blatt in den Kegel der Lampe und überflog ein paar Zeilen, als hoffe er, in den Manuskripten Hinweise auf unvermutete Reichtümer zu finden. Der erste Berufsverkehr rauschte über die Kantstraße aus dem
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