Sünden der Faulheit, Die
willst du’s wirklich wissen?«
»Nein!«
Leschek wirkte ungewöhnlich zerstreut.
»Hält dich etwas in Berlin?« fragte er unversehens, und Irene wußte nicht, was sie darauf antworten sollte.
»Gefällt dir die Arbeit?«
»Es gibt Schlimmeres«, sagte Irene.
Leschek nahm einen tiefen Zug an seiner Selbstgedrehten.
»Ich höre Ende des Jahres hier auf.«
Irene verstand nicht so recht.
»Was meinst du?«
»Wir gehen nach Stuttgart, du bist die erste, der ich es sage.«
»Was wollt ihr denn in Stuttgart?« fragte sie erschrocken.
»Kommst du mit? Ich kann eine Sekretärin mitbringen.«
Mit gerunzelten Brauen beobachtete Irene, wie sich Lescheks Hemd über seinem Bauch spannte.
»Du verläßt also das sinkende Schiff.«
»Ich muß weg hier!« Leschek drückte die Zigarette aus und trat ans Fenster.
»Privater Sender?«
Leschek ging zaudernd auf und ab.
»Du hast doch auch einen Sohn?«
»Und?«
»Meinst du nicht, daß es für ihn besser wäre, woanders aufzuwachsen?«
»Wo ist es schon gut?«
»Hier nicht. Jedenfalls kannst du mitkommen, wenn du willst. Eine Stelle ist für dich reserviert.«
»Das kommt etwas plötzlich.«
Leschek fuhr herum.
»Für mich auch, aber es geht nicht anders.«
Er senkte seine Stimme.
»Entschuldige.«
»Schon gut.«
»Bernhard bringst du am besten gleich mit.«
»Der ist schon groß.« Irene hatte es kaum ausgesprochen, als sie laut zu lachen begann, und Leschek lachte auch. Dann schneuzte er sich.
»Du hast Zeit genug, darüber nachzudenken.«
Irene stand auf.
»Ich werde es mir überlegen.«
»Und … behalt’s für dich.«
»Sicher. Sonst noch was?«
»Wenn Bernhard kommt oder anruft: Ich will ihn sprechen.«
Irene Rabbia saß nachdenklich vor ihrer Schreibmaschine. Wenn Lacan ginge, ginge sie auch. Wirklich? Konnte man sich auf ihn denn verlassen? Auf wen konnte man sich schon verlassen?
Sie sah sich in dem geräumigen Büro um. Flegel hockte in einer Ecke und blätterte in einem Manuskript, sonst war niemand da. Irene hatte einen Kloß im Hals. »Neu anfangen«, wie blödsinnig sich das anhörte, aber daran mußte sie immer wieder denken. Und sie dachte an Lacan. Sie wollte ihn haben, und sie würde ihn bekommen. Es wurde Zeit, in die Kantine zu gehen.
Florence Blumenfeldt ging das Gespräch mit Mertens nicht aus dem Sinn. Die Vorstellung, Lacan sei im Besitz des Oelze, war zu verlockend, und je länger sie darüber nachdachte, je mehr befürchtete sie, er könne ihre Verabredung am Abend vergessen haben, bis sie schließlich neben einer Telefonzelle hielt, aber er war nicht zu Hause, und sie setzte ihren Weg zur Universität fort.
Das Institut für Kunstgeschichte lag in einem langen, viergeschossigen Betonbau, in dessen Erdgeschoß ein labyrinthischer Verbrauchermarkt eingerichtet war. Nichts erinnerte mehr an Universität, keine bemalten Bettlaken vor den Fenstern, keine Büchertische in den Gängen, keine Graffiti an den Wänden, lediglich im Aufzug hatte ein letzter Mohikaner das RAF -Emblem mit einem Schlüssel ins Metall geritzt; die Neongänge und die abwaschbaren Bürotüren links und rechts hätten auch in einer beliebigen Etage der Landesversicherungsanstalt sein können.
Professor Wagenknecht erwartete sie bereits. Er war ein hagerer Mann mit Stirnglatze, dessen Alter sich seit zwanzig Jahren nicht verändert hatte. Auf seinem Schreibtisch stand eine halb geleerte Flasche Tuborg Bier, und im Aschenbecher lag eine kalt stinkende Pfeife. Er bot Florence den einzigen Stuhl im Zimmer an, nachdem er ihn von einem Stapel Bücher befreit hatte.
»Haben Sie es sich überlegt?«
»Ja. Ich würde die Stelle gerne annehmen.«
»Das freut mich. Sehr sogar.«
Er nahm die Pfeife und begann, sie zu stopfen.
»Sie gestatten doch?«
»Natürlich.«
»Den Vertrag können Sie mit meiner Sekretärin durchgehen. Ich habe mit dem Personalrat und der Einstellungskommission gesprochen, es gibt keine Bedenken.«
»Das ist schön«, sagte Florence kühl.
Professor Wagenknecht blinzelte sie an.
»Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber vor Begeisterung scheinen Sie nicht zu platzen.«
»Wissen Sie, ich …«
»Frau Blumenfeldt, Sie schulden mir keine Erklärungen. Was macht übrigens die Rolle der Boheme im Fin de siècle?«
»Meine Dissertation?«
Wagenknecht nuckelte an seiner Pfeife, deren Rauch immer noch stank.
»Ich habe mich in den letzten Tagen wieder mehr mit Benjamin beschäftigt und deshalb …«
»Gut, gut.
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