Sünden der Nacht
lächelte über den Scherz, aber ihre Gedanken waren bereits bei Albert Fletcher, dem religiösen Fanatiker, den Mann, der zur Antwort auf ihre Fragen die Bibel zitiert hatte. Sie fragte sich, ob er wohl Robert Browning genausogut auswendig
kannte: Unwissenheit ist nicht Unschuld, sondern SÜNDE.
»Wissen Sie zufällig, was für einen Wagen Mr. Fletcher fährt?«
»Einen braunen Toyota. Ist Albert auch kein Verdächtiger?«
fragte der Priester mit einem ironischen Lächeln.
Megan erhob sich mit ernstem Gesicht. »Zu diesem Zeitpunkt, Pater, ist jeder kein Verdächtiger. Und Sie? Was fahren Sie denn?«
»Einen roten Ford-Geländewagen.« Er grinste und zog die Schultern hoch. »Jemand muß doch den Status quo aufbessern, warum also nicht ich.«
Es juckte sie ebenfalls in den Mundwinkeln. Wenn es in ihrer Jugend Priester wie Tom McCoy gegeben hätte, hätte sie in der Kirche vielleicht tatsächlich aufgepaßt, anstatt die ganze Zeit die Rückseite ihres Gesangbuchs vollzukritzeln.
»Pater Tom, haben Sie kurz Zeit für mich?«
Megan drehte sich zur Tür, als sie Mitchs Stimme vernahm. Er marschierte mit offener Jacke und zerzausten Haaren ins Büro und schien verärgert, daß sie ihm in St. Elysius zuvorgekommen war.
»Ah, Agent O’Malley«, sagte er, »drehen Sie jetzt die Priester durch den Wolf?«
»Ich habe Pater Tom nur ersucht mir beizustehen, damit ich um Geduld im Umgang mit arrogantem Chefgehabe beten
kann.«
Nachdem ihm keine passende Antwort einfiel, schnaubte er 264
nur und wandte sich dem Priester zu. Bei gutem Wetter spielte er mit Tom McCoy Golf, und mochte ihn. In der Stadt kursierten ständig Gerüchte, Pater Tom hätte Ärger mit der Diözese, weil er zu liberal wäre, was diesen völlig kaltließ; davor hatte Mitch großen Respekt.
Tom McCoy sah ihn an. »Du glaubst auch, daß ich kein
Verdächtiger bin?«
»Hat Agent O’Malley dir etwas anderes einreden wollen?«
»Pater Tom und ich hatten nur ein Routineschwätzchen«, sagte Megan mit frostiger Stimme. »Hätte ich dafür Ihre
Genehmigung gebraucht, Herr Oberaufseher?«
»Habt ihr über die Botschaften gesprochen?«
»Nein.«
»Über was?« fragte Pater Tom. »Hat es eine Lösegeld-
forderung gegeben?«
»Ich wünschte, es wäre so einfach«, sagte Mitch. »Zwei Nachrichten wurden gefunden – eine in Joshs Sporttasche, die andere in seinem Notizbuch. Beide beziehen sich auf Sünde.«
»Und da denkt man automatisch an die Kirche«, schloß der Priester.
»Man muß nach irgend jemanden in deiner Pfarrei suchen, den du für geistig instabil oder fanatisch hältst, insbesondere jemand mit Verbindung zu den Kirkwoods.«
»Unser Fanatiker vom Dienst ist Albert Fletcher, aber Albert würde genausowenig ein Verbrechen begehen wie dem Papst abschwören«, sagte Pater Tom. »Und er hat an diesem Abend Joshs Klasse unterrichtet, falls er ein Alibi braucht. Geistig instabil – ein paar von denen haben wir schon, aber das sind Leute mit Problemen, keine psychopathischen Monster. Mir fällt auch niemand ein, der einen etwaigen Groll gegen Hannah oder Paul hegte.«
Mitch versuchte, seine Enttäuschung nicht zu zeigen. Fälle wie 265
diese wurden nur selten in einer glatten Aktion geklärt. Ein Cop konnte es sich nicht leisten, jede Sackgasse oder jeden Rückschlag ernstzunehmen, davon gab es zu viele wie zum Beispiel heute! Die Suche brachte nichts. Hannah und Paul waren, wie erwartet, von der Enthüllung der Botschaften im Fernsehen schockiert gewesen. Die Vernehmungen des
Schulpersonals brachte nichts, außer Papierkram. Er hatte eine undichte Stelle in seinem Büro, und Megan O’Malley ließ seine Autorität nicht gelten. Diese Kombination nagte an dem Deckel seines Jähzorns wie ein gefräßiger Virus.
»Wir haben bereits über Joshs Ausbildung als Ministrant geredet«, klärte Megan ihn auf. »Das sieht nach einer weiteren Sackgasse aus.«
»Na ja, dann werden wir dich nicht mehr länger von der Arbeit abhalten, Pater«, sagte Mitch. »Ruf mich an, falls dir doch etwas einfällt.«
»Das werde ich«, sagte Tom mit ernster Miene. »Und in der Zwischenzeit sollten wir alle wie der Teufel beten.«
Megan ging vor Mitch durch die Seitentür der Kirche und dann die Treppe hinunter auf den ordentlich freigeschaufelten Gehsteig.
Schnee türmte sich zwischen der Schneise und dem Parkplatz wie eine Gebirgskette in Miniatur, durch die man alle zehn Meter einen Paß gegraben hatte. Sie steuerte auf den zu, der ihrem Lumina am
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