Sünden der Nacht
Hoffnung in neuerlicher Enttäuschung.
»Es könnte ein Streich gewesen sein«, sagte Mitch. »Kinder, die rumspielen. Hannah sagt, sie könnte nicht beschwören, daß es Joshs Stimme war.«
Er saß Megan an dem Resopaltisch ihres Zimmers im Super-8-Motel gegenüber. Die Reste einer fast unberührten chinesischen Mahlzeit aus dem Automaten waren über den ganzen Tisch verteilt. Der Geruch von abgestandenem Broccoli und
Rindfleisch überdeckte fast den beißenden Geruch uralten Zigarettenrauch, der alles im Raum durchtränkte. Auf dem Nachttisch neben dem Bett stand ein billiger Wecker, der in glühendem Rot 21 Uhr 57 anzeigte. Michael Bolton krächzte ein Lied vom Ende einer großen Liebe über den einzigen
Rundfunksender, der zu kriegen war.
Megan schob ein Stück mandelpaniertes Huhn mit der Gabel über ihren Pappteller. »Am liebsten möchte ich abstreiten, daß jemand so grausam sein kann, aber das würde sich ziemlich dämlich anhören, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht«, sagte er leise. »Ist es dumm, auf kleine Gnaden zu hoffen? Verbrechen ist eine Sache – zu erwarten, daß normale Menschen anständig miteinander umgehen, etwas
anderes. Wenn wir nicht einmal darauf hoffen können …«
»Ich krieg Gänsehaut bei dem Gedanken, daß der Anruf von hier kam«, gab Megan zu. »Immer wieder muß ich an einige von den Insassen in dieser Irrenanstalt denken, und mir stehn die Haare zu Berge. Sexuelle Psychopathen, geisteskranke
Verbrecher …«
»Aber sie sind im Sicherheitstrakt«, wandte Mitch ein. »Nicht draußen. Der Bezirksheriff hat das bei der Verwaltung
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überprüft. Sie hatten keine Meldungen, daß irgend jemand fehlte. An niemanden, wegen dem wir uns Sorgen machen
müßten, hatten sie Tagespässe ausgegeben. Es ist nur Zufall, daß der Anruf von hier kam, wo die Anstalt steht. Eins wissen wir mit Sicherheit«, fuhr Mitch fort. »Olie Swain kann das Telefonat nicht getätigt haben. Mindestens fünfzig Leute können
beschwören, daß er zu der Zeit des Anrufs in der Eishalle war.«
»Das heißt nicht, daß er nichts damit zu tun hat.« Megan blieb störrisch. Möglicherweise hat er es nicht allein gemacht. »Wir haben diese Version in Betracht gezogen – daß er tatsächlich zum Zeitpunkt der Entführung in der Eishalle war und jemand anders seinen Van gefahren hat.«
»Helen konnte den Van nicht identifizieren.«
»Die Zeugin ist verwirrt und aufgeregt und ist nicht in der Lage, einen Ford von einem Volkswagen zu unterscheiden, selbst wenn das Schicksal der Nation davon abhinge.«
Die Heizung schaltete sich mit einem asthmatischen Knurren ein, pustete heiße trockene Luft in den Raum und wirbelte den abgestandenen Zigarettengestank wieder auf.
»Es hätte eine Tonband-Aufnahme sein können«, schlug
Megan vor.
Sie hatten das schon so oft durchgekaut, daß ihnen die Zähne stumpf wurden. Den ganzen Nachmittag und den halben Abend, während die Polizei von St. Peter systematisch die Straßen ihrer Stadt durchkämmten und die Jungs vom mobilen Labor des BCA die Telefonzelle Millimeter für Millimeter absuchten, hatten sie hin und her überlegt, gehofft und Drohungen gemurmelt, die sie nie wahrmachen würden.
Und trotzdem kauten sie hartnäckig denselben Knochen noch mal durch, vielleicht käme zu guter Letzt doch etwas dabei heraus.
Die Hubschrauber dröhnten wieder übers Land, das
ursprüngliche Suchgebiet war erweitert worden, auf Teile der 333
Bezirke Nicollet, La Suer und Blue Earth. Ausgesandte Teams der städtischen und der Bezirkspolizei sowie Freiwillige aus der Umgebung begannen eine neue Bodensuche. Überall wurden Handzettel mit Joshs Foto angeschlagen, an jedem Lichtmast, auf jedem Schwarzen Brett, in jedem Laden, jedem Restaurant und jeder Bar.
Die Presse war dagewesen, um alles für die Abendnachrichten aufzuzeichnen, der hektische Ansturm auf eine neue Spur! Die verzweifelte Hoffnung, die jeden Cop aufhorchen ließ und jeder gestellten Frage eine neue Schärfe verlieh … eine frische Spur war wie Speed im Blutkreislauf. Erwartungen sprossen aus den Tiefen der Sorge. Es machte die Kälte intensiver, verstärkte das Ticken der Uhr, die die Stunden des vermißten Kindes
markierte. Und am Ende blieb ihnen nur das Gefühl verloren zu sein, sich abzustrampeln und erneut Fragen stellen zu müssen.
»Hannah sagt, die Verbindung wäre schlecht gewesen.
McCaskill meinte, es könnte ein Band gewesen sein«, bemerkte Megan. »Die Jungs im Tonlabor werden das feststellen,
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