Sünden der Nacht
sie sind die besten.«
»Und wenn es ein Band war«, murmelte Mitch, »dann bleibt die Frage, warum?«
Sie kannten beide die Antwort. Keiner von ihnen wollte sie aussprechen. Wenn der Täter ein Band mit Joshs Stimme
verwendet hatte, konnte er wahrscheinlich Josh nicht selbst dazu verwenden. Mitch holte ein Päckchen Magentabletten aus seiner Hemdtasche und schluckte drei Stück.
»Warum überhaupt ein Anruf, wenn er keine Lösegeld-
forderung stellen will?« fragte Megan.
Eine drohende Migräne hatte sich hinter ihrem rechten Auge wie eine glühend heiße Kohle eingenistet und wehrte sich hartnäckig gegen das Mittel, das sie vor einer halben Stunde eingenommen hatte.
Sie brauchte etwas Stärkeres, aber das würde sie umhauen, 334
und sie mußte denken. Stirnreibend starrte sie auf ihre Essens-reste, bis sie zu einem Mosaik erdiger Farben verschwammen.
»Wenn es der Verbrecher war, der nur ein Band von Josh abgespielt hat, wie er drum bettelt nach Hause zu dürfen … ist es Tritzerei, schlicht und einfach Grausamkeit. Und es ist persönlich. Er schikaniert Hannah und Paul aus Spaß an der Freude. Das muß persönlich sein.«
Mitch hob die Schultern. »Oder Macht. Teil seines Spiels – so wie das Notizbuch auf meiner Motorhaube. Er ist einer von den Typen, die Fliegen Flügel und Beine ausreißen, und es komisch finden.«
»Ein Spiel«, flüsterte Megan. Sie leugnete das einfach als die Mentalität der Person, mit der sie es zu tun hatten – denn wenn dem so war, würde alles sicher noch viel grausiger werden.
»Warum sollte jemand Hannah und Paul auf dem Kieker haben?
Ich kann mir nicht vorstellen, daß die überhaupt wissen, was Feinde sind.«
»Was spielt das für eine Rolle.« Mitch war zu müde, um sich die Resignation in seiner Stimme zu verkneifen. »Du glaubst, daß guten Menschen keine schlimmen Sachen passieren?«
Megan zuckte sichtlich zusammen. »Das hab ich nicht
gemeint.«
Sie dachte daran, seine Hand zu berühren. Eine simple Geste, die absolut gegen ihre Natur war. Sie streckte nie irgendeine Hand aus.
Wenn ja, könnte sie weggestoßen werden. Es war klüger, Gefühle tief in sich zu begraben. Gestern abend hatte sie ihre Schutzmechanismen abgelegt, aber das war vorbei. Der neue Tag hatte einen alten Schwur wiederholt: keine Cops, keine Polizeichefs.
»Wir sollten für heute Schluß machen.« Sie stand auf.
Mitch sah ihr zu, wie sie einem Spatzen gleich um den Tisch 335
flatterte, die schmutzigen Teller und das Plastikbesteck einsammelte. Die Frau, die gestern nacht in seinen Armen wie Feuer gebrannt hatte, hatte sich im Morgengrauen verwandelt.
Alle Leidenschaft, alles Weiche war wieder in dieser Person mit den zurückgekämmten Haaren und dem ernsten Mund
eingesperrt worden. Die Frau mit der ausgebeulten Cordhose und dem schlampigen Pullover, die ihre Weiblichkeit
versteckten wie ein Familiengeheimnis.
Er sah ihr zu, wie sie den Müll in einen Papierkorb von der Größe einer Schuhschachtel stopfte, mit abgehackten, raschen Bewegungen. Ihre Körpersprache signalisierte, daß sie ihn nicht als Zuschauer haben wollte. Sie war die erste Frau seiner Nächte in den letzten zwei Jahren, die sich hinterher nicht an ihn klammern wollte. Wirklich lächerlich, diese Ironie, er hatte all die Zeit damit verbracht, sich vor allzu anhänglichen Frauen zu verstecken. Megan wollte nichts von ihm, und im Moment verspürte er den ungeheuren Drang, sie in seine Arme zu ziehen und zu lieben. Ein kurioses Puzzle, aber ausnahmsweise hegte er nicht das Bedürfnis, die Teile zu ordnen.
»… ich hab mir gedacht, wenn heute nichts zusammengeht«, plapperte sie weiter, »fahr ich morgen nach St. Paul. Ich sollte mal nach meinem Vater sehen und könnte im Hauptquartier schauen, ob ich den Typen im Tonlabor nicht ein bißchen Beine machen kann. Ken Kutsatsu arbeitet gerne sonntags. Wenn er da ist, überrede ich ihn vielleicht dazu, sich unser Band anzuhören.
Und ich könnte feststellen, ob sich schon etwas mit dem Notizbuch ergeben hat, obwohl ich da wenig Hoffnung habe. Ich möchte auch Jayne Millard aufsuchen – sie macht unsere Profilerstellung von Verdächtigen. Vielleicht hat sie einen Tip auf Lager.«
»Du sprichst von deinem Vater«, sagte Mitch beiläufig, erhob sich aus seinem Stuhl und streckte sich, um seinen verspannten Rücken zu lockern. »Du erwähnst nie deine Mutter. Gibt es sie noch?«
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Falsche Frage. Ihr Gesicht wurde abweisend. »Ich hab keine Ahnung. Sie hat uns
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