Sünden der Nacht
vor einer Woche. Jetzt lehnte er sich direkt vor ihr an die Wand, die Arme verschränkt. Sein Gesicht war zerfurcht von Streß, überschattet von Müdigkeit, sah eingefallen und hart aus.
Auch der Raum hatte sich verändert. Sie nannten es jetzt den Strategieraum. Über das Schwarze Brett aus Kork war eine Karte von Park County und eine vom Staat Minnesota genagelt, rote Stecknadeln markierten die Suchbereiche. An der langen Wand hing ein ein Meter breites und vier Meter langes Stück Papier, auf dem der gesamte Verlauf geschrieben stand. Alles was geschehen war, seit man Josh das letzte Mal gesehen hatte, war auf dieser Ereignis-Kurve verzeichnet.
Von der roten Hauptader aus verzweigten sich gekritzelte 467
Nebenflüsse, Notizen in roter, blauer und schwarzer Tinte. Auf das weiße Nachrichtenbrett am Ende des Raums hatte Mitch mit seiner kühnen, schrägen Handschrift den Vers der neuesten Botschaft notiert.
Hier kamen sie zusammen, um Wissen auszutauschen und
neue Denkanstöße zu suchen. Weit weg vom Lärm und der
Hektik der Einsatzleitung. Im Strategieraum gab es kein Telefon, keine Freiwilligen, die einem ständig in die Quere kamen, keine Presse, die sich hereindrängelte. In diesem Raum konnten sie sitzen, die neueste Botschaft lesen und dem Ticken der Uhr lauschen, während sie um ihre Entschlüsselung rangen.
Das einzige, was sie mit Bestimmtheit wußten, war, daß das Zitat aus William Blakes ›My Specter‹ stammte.
»Er könnte damit sagen, daß er eine gespaltene Persönlichkeit hat«, bot Megan an, was ihr ein verächtliches Schnauben des Sheriffs einhandelte. »Oder einen Komplizen.«
»Olie Swain«, grunzte er. »Er war schuldig wie die Sünde selbst. Ihr habt doch diese Bilder gesehen, die er hatte …«
»Sie waren alt«, wandte Mitch ein. »Hier hatte er eine saubere Weste …«
Der Sheriff rollte mit den Augen, als sich ihre Blicke beim Hin- und Herirren kreuzten. »Einmal ein Hühnerhabicht, immer ein Hühnerhabicht. Glaubst du vielleicht, daß der so lange hier gelebt hat, ohne es irgendeinem Kind zu besorgen?«
»Es gab nie eine Meldung …«
»Das sagt gar nichts. Solche Scheiße passiert doch dauernd, und keiner hört was davon. Kinder sind gierig. Olie bietet irgendeinem Kind zehn Dollar für ein bißchen Rumfummeln, vielleicht denkt das Kind, das ist nicht so schlimm – nimmt das Geld und hält die Klappe. Olie war’s.«
»Und hat mit seinem Lebensblut geschworen, daß er’s nicht war«, sagte Megan spitz, nur um Steiger zu ärgern, nicht weil sie unbedingt daran glaubte.
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Er warf ihr einen bösen Blick zu. »Darauf sind Sie
reingefallen?« Er schüttelte den Kopf und grinste boshaft. »Na ja, wir wissen ja wohl alle, wie Sie es geschafft haben, Detective zu werden.«
»Was wollen Sie damit sagen?« knurrte Mitch gefährlich und richtete sich auf.
»Das bedeutet, daß er ein Wichser ist«, sagte Megan kühl. Sie dirigierte das Gespräch wieder in die richtigen Gleise zurück, bevor Steiger sich wehren konnte. »Er könnte sagen, daß er Gewissensbisse hat wegen seiner Taten, aber das glaube ich nicht. Er hat noch kein einziges Mal Reue gezeigt, uns höchstens an der Nase rumgeführt. Ich glaube, er hockt irgendwo und lacht sich kaputt, während wir wie die Keystone Cops rumrennen.«
»Diese verfluchten Kopfspielchen«, murmelte Mitch.
Kopfspiele eines Gehirns, das so verdreht war wie ein
Korkenzieher. So gestört, daß es ein Beweisstück ablegen konnte, dann seelenruhig auf ein Haus zuspazierte und die Frau darin in ein Gespräch verwickelte, in dem er beiläufig Hinweise fallen ließ und sich dann einfach trollte.
»Dem stimm ich zu. Wir wissen, daß Olie nichts mit dem Anruf zu tun hatte, der Samstag aus St. Peter erfolgte. Er hat das Notizbuch nicht auf die Motorhaube gelegt, konnte auch die Jacke nicht mehr dort hinlegen. Und dieser Anruf gestern nacht kam genausowenig von Olie.«
»Welcher Anruf?« fragte Steiger.
Megan ignorierte ihn. »Es könnte natürlich irgendein Spinner gewesen sein, aber es paßt zu gut zu den anderen Äußerungen.«
Der Sheriff trat in ihr Blickfeld, mit sauertöpfischer Miene.
»Welcher Anruf?«
»Ich hatte gestern nacht einen Anruf«, sagte Mitch und deutete 469
auf das Nachrichtenbrett. »Er hat immer wieder dasselbe gesagt
– ›blinde, nackte Ignoranz‹. Ich hab’s als Anruf eines Verrückten abgeschrieben.«
»Blind und nackt?« Steiger schniefte. »Vielleicht hat jemand durch dein Fenster geschaut.«
»Und
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