Sünden der Nacht
liebsten gefragt, der beruflichen oder ihrer persönlichen Situation? Sie entschied sich für das erstere; darauf sollten sie sich konzentrieren, die verdammte Uhr würde nicht aufhören zu ticken.
»Für uns heißt das«, faßte sie kurzangebunden zusammen,
»wir finden Josh.«
478
Kapitel 27
TAG 8
17 Uhr 39, -33 Grad, Windabkühlungsfaktor: -43 Grad Hannah stand am Fenster und starrte hinaus auf den See. Die letzten Strahlen Sonnenlicht breiteten sich brandrot über den Horizont. Komisch, daß ein so kalter Himmel eine so heiße Farbe darbot. Während sie da stand, spürte sie die Kälte durch das Glas kriechen, in ihren Körper eindringen. Sie wünschte, sie würde sie abstumpfen, aber das geschah nicht, sie ließ sie nur erschaudern.
Auf der anderen Seite des Sees tauchten Blinklichter auf. Die Hubschrauber waren nochmals angefordert worden. Einen
konnte sie in der Ferne sehen, er hing wie ein Geier über Dinkytown. Sie erinnerte sich an das Knattern der Rotoren, wie sie wachgelegen und ihrem unheimlichen Flug hin und her über die Stadt gelauscht hatte. Hinter Dinkytown, draußen vor dem flammenden Horizont lag Ryan’s Bay.
In der Ryan’s Bay hatte ein Hund Joshs Anorak, weggeworfen wie ein Stück Müll, entdeckt.
Sie sah das Kleidungsstück vor ihrem geistigen Auge –
grellblau mit grünen und gelben Rändern. Sie kannte die Größe und den Markennamen, die Taschen, in denen er kleine Schätze, Kleenex und Fäustlinge bunkerte. Sie kannte den Geruch und wußte, wie es sich anfühlte. All diese Erinnerungen wurzelten tief in ihrem Bewußtsein, unberührbar, unantastbar. Schon der zweite Gegenstand von Josh, der innerhalb einer Woche von ihm aufgetaucht war, und man hatte ihr nicht erlaubt, ihn zu sehen oder zu berühren. Die Jacke ging sofort nach St. Paul, um 479
studiert und analysiert zu werden.
»Ich hätte sie so gerne nur ein wenig im Arm gehalten«, sagte sie leise. Sie stellte sich vor, wie das gewesen wäre, sie an ihr Gesicht zu heben, sie über ihre Wange streichen zu lassen.
»Tut mir leid, Hannah.« Megan appellierte an ihren Verstand:
»Wir hielten es für unerläßlich, sie so schnell wie möglich ins Labor zu schaffen.«
»Natürlich versteh ich das«, murmelte sie. Aber das stimmte nicht, nicht außerhalb dieses logischen, realistischen Gehirn-komplexes, der routinemäßig reagierte.
»Glauben Sie, sie finden darauf Fingerabdrücke?« fragte Paul.
Er saß neben dem Kamin, in einer ausgebleichten schwarzen Jogginghose und einem schweren grauen Sweatshirt mit dem Logo der Universität von Minnesota. Sein Haar war noch feucht von der Dusche, mit der er sich aufgewärmt hatte. Lily saß auf seinem Schoß und versuchte vergeblich, ihn für ihren Plüsch-Dino zu interessieren.
Megan und Mitch tauschten einen Blick.
Mitch verneinte. »Es ist praktisch unmöglich, auf Nylon Fingerabdrücke zu hinterlassen.«
»Was dann?«
»Willst du sie wirklich zwingen, es zu sagen?« erkundigte sich Hannah in scharfem Ton. »Was glaubst du denn, wonach sie suchen, Paul? Blut. Blut und Samen und irgendwelche andere gräßlichen Spuren von dem, was dieses Tier Josh angetan hat.
Hab ich recht, Agent O’Malley?«
Megan sagte nichts. Die Frage war rhetorisch. Hannah
brauchte und wollte keine Antwort. Sie stand mit dem Rücken zum Fenster da, Trotz und Wut bildeten nur eine hauchdünne Schicht über dem nackten Entsetzen, das sie verzehrte.
»Die Frau, deren Hund die Jacke aufstöberte, hat
möglicherweise den Mann gesehen, der sie dort hinlegte«, sagte 480
Mitch. »Es könnte sogar sein, daß sie ein Gespräch mit ihm geführt hat.«
»Könnte sein?« fragte Hannah verwirrt.
Mitch erzählte ihnen die Geschichte von Ruth Cooper und dem Mann, der an ihre Tür gekommen war, nachdem sie ihn durch ihr Küchenfenster entdeckt hatte. Als er zu der Stelle mit dem Namen des Hundes kam, wurde Hannahs Gesicht aschfahl, und sie klammerte sich an den Ohrensessel, weil ihre Knie nachgaben.
Paul entwickelte mit einem Mal Aktivität. Er stand langsam auf und setzte Lily auf den Boden. Sie wackelte zu Mitch und bot ihm ihren Dinosaurier an. Pater Tom erhob sich von der Couch, nahm sie hoch, kitzelte sie, bis sie zu kichern anfing, und trug sie nach oben ins Schlafzimmer.
»Sie kann also den Mann identifizieren«, sagte Paul.
»Gegenwärtig arbeitet sie mit dem Zeichner an einem
Phantombild«, erklärte ihm Megan. »Es ist nicht so einfach, wie wir es gerne hätten. Der Mann war für dieses Wetter
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