Sünden der Nacht
tiefer in ihren Honda stieg, auf den Omni-Parkway hinaus und in die Dunkelheit davonfuhr. Ihre Rücklichter glühten wie Dämonenaugen.
Langsam wandte er sich vom Fenster ab und ging zurück an seinen Schreibtisch, starrte auf die Telefonautomatik, die alle Anrufe auf seiner Privatleitung entgegennahm. Angstschweiß brach aus allen seinen Poren. Die Bilder des Tages wirbelten so heftig durch seinen Kopf, daß ihm schwindlig wurde. Sein Magen verkrampfte sich, als er mit zitterndem Finger den Rückgabe-knopf drückte. Seine Knie wurden weich. Er sank in seinen Stuhl und stützte seinen Kopf auf, während das Band sich zurückspulte.
» Dad, kannst du kommen und mich vom Eishockey abholen?
Mom hat sich verspätet, und ich will nach Hause. «
204
Kapitel 12
TAG 2
21 Uhr 43, -10,5 Grad
Sie blätterten Joshs private Gedanken durch, während Phil Collins im Hintergrund seine Klagelieder sang. Hier waren Joshs intime Zeichnungen und Kritzeleien, die Fremde nicht zerpflücken und zerfleddern sollten. Megan verdrängte diesen Gedanken und konzentrierte sich statt dessen auf Hinweise etwaigen Unglücklichseins oder Furcht oder Haß auf einen Erwachsenen.
Da gab es sorgfältige Zeichnungen von Rennautos und
Notizen, in denen er die Hartnäckigkeit eines kleinen Mädchens namens Kate Murphy beklagte, die sich in den Kopf gesetzt hatte, Josh zu ihrem Anbeter zu machen. Brian Hiatt und Matt Connor waren seine besten Kumpel – Die Drei Amigos. Hockey wurde erwähnt und eine Seite mit einer cartoonartigen
Zeichnung von Olie Swain, erkennbar durch den dunklen Fleck seines Muttermals, wie er auf Schlittschuhen einen Salto schlug.
Neben das Bild hatte Josh geschrieben: Die Kinder hänseln Olie, aber das ist gemein. Er kann doch nichts dafür, wie er ausschaut. Daß seine Eltern Probleme hatten, wußte er auch. Es gab ein Bild, auf dem seine Mutter in die eine Richtung schaute, mit einem Stethoskop um den Hals und sein Vater in die andere, die Augenbrauen dunkel, wütende, schwarze Striche. Eine große Gewitterwolke hing über ihren Köpfen und spuckte Regentropfen groß wie Patronen. An den unteren Rand der Seite hatte er geschrieben: Dad ist sauer. Mom ist traurig. Mir geht’s schlecht.
Megan blätterte weiter und rieb sich mit den Händen übers 205
Gesicht. Mitch starrte die Nachricht an, die der Kidnapper in das Buch gesteckt hatte. Er sah genau aus, wie das Blatt aus der Tasche, Laserdruck auf billigem Büropapier.
Ich hatt ein bißchen Kummer, geboren aus ein bißchen SÜNDE
Unwissenheit ist nicht Unschuld, sondern SÜNDE
SÜNDE.
Das war schon das zweite Mal, daß das Wort Sünde fiel. Josh war Ministrant in St. Elysius. Normalerweise wäre er Mittwoch abend in den Religionsunterricht gegangen … Jemand hatte bereits seinen Lehrer vernommen, ihn gefragt, ob es irgendeinen Anruf gegeben hätte, daß Josh zu spät kommen oder fehlen würde; hatte all die Fragen noch einmal gestellt, die man allen Erwachsenen in Joshs Umfeld gestellt hatte. Aber es gab andere Leute, die Verbindung zur Kirche hatten, ein paar hundert Gemeindemitglieder zum Beispiel. Oder es könnte auch sein, daß der Kidnapper gar nicht zu St. Elysius gehörte, er könnte genausogut Mitglied einer der anderen acht Kirchen in Deer Lake sein – oder gar keiner.
Mitchs Piepser ging los. Er ließ sein halbgegessenes Stück Pizza zurück in den Karton fallen und stand auf. Ohne Rücksicht auf seine fettigen Hände fischte er das Handy aus der
Jackentasche und drückte die Nummer.
»Andy, was ist los?« fragte er und sah Megan an. Sie erhob sich in Zeitlupe von ihrem Stuhl, als könnte eine plötzliche Bewegung ihre Chancen auf eine gute Nachricht verderben.
»Wir haben einen Zeugen!« Die Aufregung des Sergeants
vibrierte durch die Leitung. »Sie wohnt drüben bei der Eishalle und glaubt, Josh gestern abend erkannt zu haben. Sagt, sie hat ihn in ein Auto steigen sehen.«
»Und warum, verdammt noch mal, ruft sie jetzt erst an?«
schimpfte Mitch. »Warum hat gestern abend keiner mit ihr geredet?«
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»Keine Ahnung, Chief. Sie kommt aufs Revier. Ich dachte mir, Sie wollen dabeisein.«
»Bin sofort da.« Er steckte das Telefon weg, den Blick immer noch auf Megan gerichtet. »Wenn es einen Gott gibt, dann haben wir jetzt einen Durchbruch.«
21 Uhr 54, -10,5 Grad
»Mir ist das so furchtbar peinlich, Mitch.«
Die Neonlichter des Konferenzraums fluteten auf Helen Black herab und gaben ihr etwas Gespenstisches, irgendwie passend zu dieser
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