Sünden der Nacht
heute abend geben? Heute abend, wo jeder an das vermißte Kind dachte und jeder Teilnehmer ein gelbes Band trug und auf jedem Wagen ein Transparent hing, auf dem BRINGT JOSH NACH HAUSE stand.
Megans Gedanken waren allesamt auf Joshs Rettung gerichtet. Sie hatten so wenig in der Hand, die Hinweise von der Hotline beschränkten sich auf Sackgassen und falsche Hoffnungen. Sie mußte immer wieder an Olie Swain denken. Er war der einzige, den man überhaupt als Verdächtigen bezeichnen konnte. Mitch teilte wohl ihre Meinung, sonst wäre er nie das Risiko eingegangen, sich Olies Van anzuschauen.
Wieder wünschte sie sich, er hätte sie in die Sache mit dem Van eingeweiht. Und in seine Geschichte. Sie hätte das Telefon nehmen können und mit ein paar Anrufen seine Vergangenheit aufdecken. Wenn sie das gewollt hätte, könnte sie sich bei TV 7 erkundigen und eine Kopie von Paige Price’ Enthüllungsstory über ihn besorgen lassen. Auch bei der Polizei in Miami hätte sie jemanden kontaktieren, oder die Story aus den Archiven des Miami Herald rausholen können. Aber sie würde nichts dergleichen tun. Es mußte von Mitch selbst kommen, und der Grund dafür jagte ihr höllische Angst ein. Tief in ihrem Inneren, wo Logik nichts verloren hatte, wollte sie, daß er ihr vertraute.
»Du bist so dämlich, daß dich die Schweine beißen, O’Malley.«
Er wollte sie flachlegen, nicht ihr sein Herz schenken.
Sie wollte es auch. Ihr dritter Tag bei diesem Job, und sie wollte Sex mit dem Polizeichef.
»Du bist zu blöd zum Naseputzen, O’Malley.«
Wollust. Chemie. Tierische Begierden. Der Überschwang einer hochexplosiven Situation. Körperliche Bedürfnisse, die zu lange ignoriert worden waren. Die Ausreden schwirrten durch ihren Kopf, alle wahr, keine die Wahrheit. Sie würde nicht nach dem eigentlichen Kern suchen, aus Sorge vor dem, was dort lauerte. Ein Verlangen, das nie gestillt worden war. Eine Sehnsucht, die sie seit ihrer Kindheit begleitete, Sentimentalitäten!
In ihrem Leben war kein Platz für eine Beziehung und schon gar nicht für eine mit Mitch Holt, angesichts all der Schwierigkeiten, die sie bringen würde. Sie konnte nicht begreifen, daß sie tatsächlich mit diesem Gedanken gespielt hatte. Phantasien von Liebe und Familie und dunkelhaarigen kleinen Kindern hatte sie immer in die tiefsten, dunkelsten, einsamsten Stunden der Nacht verbannt, wo man sie als
Träume abtun konnte, wenn Tageslicht und Realität untergetaucht waren. Es verwirrte sie, daß sie ausgerechnet jetzt aufmarschierten, wo sie weder Zeit noch Energie besaß, mit ihnen fertig zu werden. Sie mußte sich uneingeschränkt dem Fall widmen!
Mit derselben sturen Entschlossenheit, mit der sie Karriere gemacht hatte, zwang sie ihren Verstand in diese Richtung und steuerte ihren Wagen zur Eishalle. Lange blieb sie im Wagen auf dem Parkplatz sitzen, starrte auf Olies verbeulten Van, ging alle Möglichkeiten durch, und Furcht regte sich in ihr. Eine Ahnung, noch sehr vage, außer Reichweite, kitzelte sie wie ein Insektenstich, an den sie nicht herankam. Und ganz hinten in ihrem Kopf hörte sie gleichsam Joshs Stimme, wie er die Zeile aus seinem Notizbuch las: Die Kinder hänseln Olie, aber das ist gemein. Er kann doch nichts dafür, wie er aussieht.
Aus der Halle ertönte Musik über die Lautsprecher – Mariah Careys ›Hero‹. Die Sitzreihen waren leer und dunkel, Lichter schienen auf das Eis, wo ein einsamer Schlittschuhläufer seine Kreise zog. Er bewegte sich in perfekter Harmonie mit dem fließenden, wunderschönen Lied. Megan ging zur Teambank und setzte sich auf einen Platz bei der roten Linie.
Der Schlittschuhläufer war eine junge Frau, blond, zierlich, aber athletisch. Sie trug schwarze Leggins, einen violetten Eislaufrock und einen lockeren cremefarbenen Pullover, völlig versunken in die Musik und in ihre Arm- und Beinarbeit. Jede Bewegung wurde perfekt gehalten, bis sie in die nächste überging. Ihre Sprünge waren graziös, kraftvoll, so weich aufgesetzt, daß sie die Gesetze der Physik Lügen straften. Die Musik schwoll an, stieg gen Himmel, wurde wieder leiser. Die Schlittschuhläuferin erhob sich zu einer letzten Pirouette, wie eine Ballerina auf einer Spieldose.
Megan applaudierte und lenkte damit zum ersten Mal die Aufmerksamkeit der Läuferin auf sich. Sie lächelte und winkte zum Dank für den Applaus, dann lief sie auf sie zu, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Das war wunderbar«, lobte Megan.
Sie rang heftig nach
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