Sünden der Nacht
Zeitung im Staat gab es kaum einen Menschen in der Stadt, der beim Frühstück nicht den Kopf schütteln und die Situation beklagen konnte. Die Geschichten wälzten Olies Vergangenheit platt – »Der Werdegang eines Kinderschänders« -, bauschten seine Flucht aus Washington und seinen anschließenden Aufenthalt in Deer Lake sensationell auf. Besonders ausführlich schilderten sie seine Fähigkeit, sein wahres Ich zu verstecken und nach außen hin ein ruhiges Leben zu führen. Ebenso eindringlich wurden das Entsetzen und der Schock der Bürger geschildert, nachdem sie entdeckten, daß nicht nur ein Monster mitten unter ihnen lebte, sondern daß sie ihm auch noch engen Kontakt mit ihren Kindern erlaubt hatten.
Mitch und der Bezirksstaatsanwalt gaben eine Pressekonferenz, ein vergeblicher Versuch, den Strom wilder Gerüchte einzudämmen. Bis zum Nachmittag kursierten bereits in der ganzen Stadt Geschichten, wie Olie Swain kleine Buben im Heizkeller der Eishalle belästigt, sich vor Kindern im Stadtpark entblößt und mitten in der Nacht in anderer Leute Fenster gespäht hatte. Es gab Gerüchte, daß bei der Durchsuchung seiner Garage und seines Vans entsetzliche Dinge auftauchten und Gerüchte um den einmal halb toten, einmal enthaupteten, verstümmelten, halb aufgefressenen Josh.
Bis zum Abend kochte die Stadt über, aufgepeitscht durch eine verworrene Mischung von Wahrheit und Erfindung. Das einzige, was sie daran hinderte, zum Gefängnis zu marschieren und den Kopf von
Leslie Olin Sewek zu fordern, war der angeborene Abscheu der Minnesoater davor, Szenen zu machen, und ein Windabkühlungs-Faktor von ungefähr zweiundundfünfzig Grad.
Die schneidende, brutale Kälte hatte den Staat praktisch zum Stillstand verurteilt. Der Gouverneur ließ persönlich Schulen und alle staatlichen Ämter schließen. In Deer Lake, wie in den meisten anderen Städten des Landes, wurde jedes Treffen, jede Veranstaltung, jeder Termin abgesagt, die storniert werden konnten, infolge der gefährlichen Wetterlage. Trotzdem schafften es etwa hundert Leute in die Freiwilligenzentrale, wo Paige Price und die Mannschaft von TV 7 einen Live-Spezialbericht über den Fall sendeten.
19 Uhr, -34 Grad, Windabkühlungsfaktor: -52 Grad
»Heute abend werden wir keine Polizei und niemanden aus dem Büro des Sheriffs hören.« Mitch hatte nämlich allen seinen Leuten untersagt, mit ihr zu reden, und Steiger hielt es für besser, sich für ein oder zwei Tage zu verkrümeln. »Heute abend reden wir mit den Bürgern von Deer Lake, der kleinen Stadt, die durch die Entführung des achtjährigen Josh Kirkwood und der Entdeckung eines Monsters in ihrer Mitte erschüttert wurde.
Zwischen einem Computer und einem langen Tisch, auf dem sich gelbe Handzettel stapelten, bewegte sie sich hin und her. Die Leute, die an dem Tisch in der Josh-Kirkwood-Freiwilligenzentrale saßen, schauten auf zu ihr. Sie trug eine enge dunkle Hose und einen Kaschmirpullover in gedämpftem Violett, das ihre zu blauen Augen unterstrich – schick genug, um ihren Respekt zu zeigen und doch so lässig wie eine Urzeitblondine aus der Menge. Ihr Haar war absichtlich zerzaust, sorgfältig festgesprayt, das Make-up raffiniert unauffällig. »Heute abend hören wir uns die Menschen von Deer Lake an, die Freiwilligen, die ihre Zeit, ihr Geld und ihre Herzen den Bemühungen, Josh Kirkwood zu finden und seine Entführer ihrer gerechten Strafe zuzuführen, geopfert haben. Wir werden mit einem Psychologen über die Auswirkungen sprechen, die dieses Verbrechen auf die Gemeinde hat und über die Psyche von Männern, die Kindern nachstellen. Außerdem werden wir mit Joshs Vater, Paul Kirkwood, sprechen und seine Reaktion auf die Verhaftung von Leslie Olie Sewek miterleben.
19 Uhr 04, -34 Grad, Windabkühlungsfaktor: -52 Grad
»Es reicht noch nicht, daß sie die Ü berwachung vermasselt hat«, regte Megan sich auf, als die Show für einen Lotterie-Werbespot unterbrochen wurde, in dem ein Cartoon-Bär im Winterschlaf die Hauptrolle spielte. »Wenn Paige und ihre Kohorten erst mal fertig sind, wird es im ganzen Staat keinen unparteiischen Geschworenen mehr geben.«
Sie sahen sich die Sendung auf einem kleinen Farbfernseher an, der auf einer alten Eichenanrichte im Büro der stellvertretenden Bezirkstaatsanwältin Ellen North balancierte. Mitch saß mit dem Rücken zum Gerät da, er weigerte sich, Paige in ihrer Stunde des Triumphs anzusehen. Die Show war auf Ellens Bitten eingeschaltet worden. Ihr
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