Sünden der Nacht
ihm jetzt etwas zustößt.«
Mitch schüttelte den Kopf, völlig perplex und total angewidert. Seine Lungen schmerzten von einer Überdosis kalter Luft, die er bei der Verfolgung Olies eingeheimst hatte. Seine bloßen Hände zuckten plötzlich vor Kälte, aber er machte keine Anstalten, seine Handschuhe anzuziehen oder seine Jacke zu schließen. Er spürte eigentlich gar nichts, so schockiert war er von dieser verlorenen Chance. Olie hätte sie vielleicht zu Josh geführt. Die Frau, die vor ihm stand, hatte ihnen eine Lösungsmöglichkeit gestohlen und besaß nicht einmal den Anstand, sich zu entschuldigen.
»Sie kapieren es einfach nicht, nicht wahr, Paige?« murmelte er. »Hier geht’s nicht um Sie. Sie sind ein Niemand. Ihr Job, Ihre Einschaltquoten, Ihr Sender, das alles ist wertlose Scheiße. Hier geht es um einen kleinen Jungen, der in seinem Bett liegen und sich eine Gutenachtgeschichte anhören sollte. Hier geht’s um eine Mutter, der ihr Kind entrissen wurde und einen Vater, der seinen Sohn verloren hat. Hier handelt es sich um das echte Leben … und es könnte sich auch einen echten Tod handeln, wegen Ihnen.«
Er drehte sich um und ging zu dem einsamen grünweißen Streifenwagen, der mit laufendem Motor auf ihn wartete, eingehüllt in weißen Auspuffdampf. Paige sah ihm nach, und in ihr regte sich zum ersten Mal, seit sie denken konnte, so etwas wie ein Gewissen. Sie dachte, sie hätte es vor Jahren ausgemerzt, wie eine unschöne Warze von ihrem makellosen Kinn. Ein Gewissen war überflüssiger Ballast. Sie kannte zwar Kollegen, die es ohne Murren trugen, aber persönlich hegte sie die Auffassung, daß es den Aufstieg an die Spitze behinderte. Jetzt …
Sie schüttelte das Gefühl ab und wandte sich zu Garcia. »Hast du alles?« fragte Paige.
Der Kameramann zog einen Minirecorder aus der Brusttasche seines Parkas und schaltete ihn ab.
Paige warf einen Blick auf die Leuchtziffern ihrer Uhr. »Gehn wir. Wenn ich mich beeile, kann ich die Story bis zehn Uhr fertig haben.«
22 Uhr 27, -35 Grad, Windabkühlungsfaktor: -52 Grad
Möchten Sie, daß bei diesem Verhör ein Anwalt dabei ist, Mr. Sewek?«
Olie zuckte beim Klang seines Namens zusammen, als hätte er einen Tritt von der Vergangenheit erhalten. Die Stimme in seinem Kopf kreischte Leslie! Leslie! Leslie! wie eine steckengebliebene Grammophonnadel. Er schaute nicht hoch zu dem weiblichen Cop, der ihm gegenübersaß, spürte jedoch ihre anklagend brennenden Augen. Die Anschuldigung ergoß sich wie Säure über seine Haut.
»Mr. Sewek? Hören Sie, was ich Sie frage?«
»Ich war es nicht«, murmelte er.
Alles verschwamm vor seinen Augen, als er seine Hände auf dem Tisch ansah. Er zupfte an den Stummeln seiner fingerlosen Handschuhe, bedacht, die Andenken an seinen Aufenthalt in Walla Walla zu verstecken. Er konnte sich noch an das erdrückende Gewicht des Rockers erinnern, der sich auf ihn gesetzt hatte, während ein Mann namens Needles die Buchstaben in seine Finger ritzte. In seinen Ohren klingelte immer noch ihr brutales Gelächter, als er sie anbettelte aufzuhören. Die Tätowierung war noch das Wenigste, was sie ihm in den fünf Jahren dort angetan hatten. Kein einziges Mal hatte man auf seine Bitte hin Gnade walten lassen, nur Sadismus.
»… es besteht ein Haftbefehl gegen Sie wegen Verstoß gegen die Bewährungsauflage …«
Sie konnten ihn zurückschicken. Der Gedanke schoß wie ein Pfeil in seine Eingeweide.
»Wir wissen, was du mit diesem Jungen in Washington gemacht hast, Olie«, sagte Mitch Holt. Er lief hinter der Frau auf und ab, die Hände in die Hüften gestemmt. »Und jetzt wollen wir wissen, was du mit Josh Kirkwood gemacht hast.«
»Nichts.«
»Komm schon, Olie, verarsch uns nicht. Du hast die Vorstrafen, du hattest die Gelegenheit, du hattest den Van …«
»Ich war es nicht!« brüllte Olie, hob den Kopf und starrte Mitch Holt verzweifelt an.
Cops glaubten ihm nie. Sie schauten ihn immer an wie etwas, das sie von ihren Schuhen kratzen müßten. Ein Stück Hundescheiße. Ein häßlicher Käfer zum Zerquetschen, schleimig. Olie sah in Mitch Holts Gesicht dieselbe Kombination von Ungläubigkeit und Ekel, die
er schon so oft erblickt hatte. Und obwohl er sie in seinem armseligen Leben immer und immer wieder erfahren hatte, spürte er doch, wie in seinem Inneren abermals ein Stück Mensch zerbrach.
Nie hatte er jemandem weh tun wollen.
Er biß die Zähne zusammen, und ein seltsames Winseln kroch in seinem Hals hoch,
Weitere Kostenlose Bücher