Sünden der Nacht
reserviertes Lächeln. »Danke, daß Sie so entgegenkommend waren, Dr. Wright.«
»Jederzeit. Wissen Sie, wo Chris wohnt?«
»Ich werd’s schon finden.«
Er nickte lächelnd. »Richtig, Sie sind der Detective.«
»Im Augenblick noch«, schränkte Megan ein, als sie sich auf den Weg nach unten machte.
Draußen hatte es wieder angefangen zu schneien. Feine weiße Flocken rieselten wie Mehl vom Himmel. Hübsch. Sauber. Das Harris-Gelände sah aus wie ein Postkartenmix. Winterwunderland. Auf dem parkähnlichen Platz auf der anderen Straßenseite lag eine Gruppe von Studentinnen auf dem Rücken und machte Schneeadler. Ihr Lachen hallte kristallklar durch die kahlen Äste der Bäume.
Megan ging zu ihrem Wagen und blieb ein paar Sekunden hinter dem
Steuer sitzen, mit geschlossenen Augen, die Stirn an das kalte Fenster gepreßt. Sie drehte den vornehmlich krächzenden, knisternden Polizeifunk aus und suchte sich einen Sender mit leichter Rockmusik, der versprach, den jeweils neuesten Wetterbericht zu bringen.
Mariah Carey sagte ihr, sie solle in sich gehen und Kraft finden.
»Held sein«. Ein guter Rat, aber was passierte, wenn die Kraft versiegte, oder die Zeit davonlief, oder der Bösewicht zu verdammt raffiniert war? Was passierte dann mit Helden? Und was passierte mit den Leuten, die auf sie zählten? Wie Josh?
Mariah trötete den letzten Ton heraus, machte durch Vokalgymnastik ein Dutzend daraus.
»Wer dieses Wetter überstehen will, muß schon ein Pionier sein«, sagte der Diskjockey. »Ein Rat für Reisepläne – Laßt sie sein! Im Bereich der Hauptstadt rechnen wir mit fünfundzwanzig bis dreißig Zentimetern von dem weißen Zeug, bevor morgen alles vorbei ist. In den Randgebieten herrschen äußerst schlechte Fahrbahnverhältnisse. Also packt euch gut ein, und bleibt auf Sender KS 95, wo’s immer dreißig Grad plus hat und die Sonne scheint!«
Die Beachboys stürzten sich in ›Kokomo‹. Megan drehte ihnen mit einer knappen Handbewegung den Hals um, legte den Gang ein und machte sich auf den Weg ins Gemeindekrankenhaus von Deer Lake.
Mike Chamberlain konnte keine neuen Stücke zu dem Puzzle beitragen. Die Verletzungen, die er bei dem Autounfall erlitten hatte, waren zwar nicht lebensbedrohlich, aber er hatte eine ernste bakterielle Infektion entwickelt, die gefährlich geworden war. Man hatte ihn ins Hennepin County Medical Center verlegt, wo er auf der Intensivstation lag und keine Besucher, außer den nächsten Angehörigen, gestattet waren.
Megan nahm diese Nachricht resigniert zur Kenntnis. Wahrscheinlich hätte er sowieso nicht helfen können. Wenn er in diesem Drama eine Rolle gespielt hatte, dann als unfreiwilliger Bauer. Falls der Unfall tatsächlich der erste Zug im Schach dieses Irren gewesen war …
Sie fuhr durch die Stadt, mit eingeschalteten Scheinwerfern und Scheibenwischern, die ziemlich nutzlos über die Windschutzscheibe schrappten. Die Hauptstraße sah aus wie eine Skipiste für Automobile, die Spuren, die kreuz und quer durch den tiefen Schnee verliefen, sprachen Bände von außer Kontrolle geratenen Fahrzeugen und zahllosen Blechschäden. Ein Team städtischer Arbeiter mühte sich ab,
die Snowdaze-Fahne, die quer über die Straße gespannt war, herunterzuholen, das bemalte Wachstuch bauschte sich und flatterte wie ein Segel im Wind.
Als sie aus dem Geschäftsviertel auf den See zufuhr, begegneten ihr mehr Snowmobile als Autos. Gärten, in denen eigentlich Kinder Schneemänner und -burgen bauen sollten, gähnten ihr leer entgegen. Solange Albert Fletcher noch flüchtig war, wurden die Kinder aus Angst vor Entführung zu Haue gefangengehalten.
Laut dem Klatsch im Scandie House Café hatte er wohl die arme Doris vergiftet und schon immer ein unnatürliches Interesse an den Ministranten von St. Elysius gezeigt. Einige der Stammgäste nickten in ihre Kaffeetassen und sagten, sie hätten ihn seit jeher ›ein bißchen komisch‹ gefunden. Alle waren zornig und voller Argwohn; sie verstummten, als ihnen klarwurde, daß die Person am vorderen Tisch, die ihr Gespräch belauschte, › diese Frau vom BCA!‹ war.
Megan konnte es ihnen nicht verdenken. Joshs Entführung hatte die beschauliche Oberfläche ihrer ruhigen Stadt gesprengt und ein Nest von Würmern freigelegt. Verrat und Geheimnisse, kranke Gehirne und schwarze Herzen, alles so miteinander verstrickt, daß keiner mehr den Knoten lösen konnte. Olie Swain war von einem harmlosen Versager zu einem Wolf unter Lämmern
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