Sünden der Nacht
nach in den Schnee warf. Die Pistole flog ihr aus der Hand.
Training und Instinkt spornten sie an. Beweg dich! Beweg dich! Beweg dich! Sie kämpfte sich vorwärts durch den Schnee wie ein gestrandeter Schwimmer, strampelte mit den Beinen, versuchte sich keuchend zu ihrer Pistole vorzuarbeiten.
Er war hinter ihr. Sie fühlte seine Präsenz wie eine Lokomotive auf sich zukommen, spürte förmlich seinen Schatten, wie er über sie fiel: der Schatten des Bösen, kalt und schwer wie Stahl.
Ein Aufbäumen noch. Augen starr nach vorn gerichtet, auf ihre Fingerspitzen, die über den geriffelten Griff der Glock glitten. Sein Gewicht ging auf sie nieder. Sie keuchte, drehte ihren Körper, rollte unter ihm heraus.
Sein Abbild blitzte wie rasche Schnappschüsse durch ihr Bewußtsein. Schwarze Kleidung, Skimaske, Augen und ein Mund. Er stürzte sich auf sie, schwang einen kurzen schwarzen Knüppel. Megan fing den brutalen Schlag mit ihrem linken Unterarm ab. Sie krabbelte rückwärts, strampelte, um auf die Füße zu kommen, ihr Gleichgewicht zu finden, ihre Schußhand in Position zu bringen. Er sprang sie an, schwang den Knüppel wieder und wieder, traf ihre Schulter, streifte seitlich ihren Kopf, traf ihre nackte rechte Hand so heftig, daß der Schmerz wie ein Lauffeuer ihren Arm hochschoß und in ihrem Kopf explodierte, ihr Bewußtsein trübte.
Die Glocke fiel in den Schnee. Ihr Arm baumelte nutzlos herunter. Sie stolperte einen weiteren Schritt zurück, wollte sich umdrehen, laufen. Ein letzter Gedanke taumelte durch ihr Bewußtsein – o Scheiße. Ich bin tot.
Kapitel 35
TAG 11 17 Uhr, – 5 Grad, Windabkühlungsfaktor: – 11 Grad
Pater Toms Kopf pochte im Takt mit seinen Schritten, als er das Mittelschiff der Kirche durchschritt. Seine Soutane raschelte um die Knöchel seiner schwarzen Jeans. Jeder dritte Schritt traf mit einer dröhnenden Baßnote der Orgel zusammen.
Mehrere Leute, unter anderem Dr. Lomax, der seinen Kopf versorgt hatte und Hannah – die in der Notaufnahme nicht von seiner Seite gewichen war – hatten ihm geraten, die Messe heute abend ausfallen zu lassen. Er hätte Hilfe aus der Erzdiözese rufen können. Sie hätten einen pensionierten Priester geschickt oder einen Anfänger aus irgendeiner der großen Stadtpfarreien, wo es tatsächlich Assistenten für Priester gab. Aber er hatte sich hartnäckig geweigert. Nun wagte er einen weiteren Schritt, als Iris Mulroony wieder diesen verflixten – vielleicht war tollkühn ein besseres Wort – Baßton anschlug.
Er hatte eine Gehirnerschütterung. Seine Ohren dröhnten immer noch von dem Geräusch des Messingleuchters, der auf seinen Kopf krachte. Immer wieder sah er alles doppelt, wie eine Kamera, deren Schärfe sich nicht einstellen ließ. Schwindelgefühl schwirrte durch seinen Kopf wie ein Schwarm Moskitos. Aber er hielt seine Messe. Es kam keinesfalls in Frage, zu Hause bleiben und sich zu verstecken – nicht nur vor Albert Fletcher, sondern auch vor denjenigen Mitgliedern seiner Gemeinde, die sich auf die Chance gestürzt hatten, gepfefferten Klatsch über die Umstände des Vorfalls zu verbreiten. Er hatte nichts Unrechtes getan, Hannah auch nicht. Sie hatte die Unterstützung und den Trost eines Freundes gebraucht. Der Tag, an dem Beistand zu leihen Unrecht wurde, war das Signal, die Menschheit endgültig aufzugeben.
Schuldgefühle bissen sich mit kleinen scharfen Zähnen in sein Gewissen. Er hatte Hannah mehr geben wollen als Beistand, hatte ihr sein Herz anbieten wollen. War das unrecht oder einfach nur gegen die Regeln?
Hinter dem Altar hob er die Arme. Iris schloß mit einem mächtigen Akkord, den er in seiner Brust spürte. Die kleine Samstagabendgemeinde verdoppelte sich im Handumdrehen vor seinen Augen.
»Der Friede des Herrn sei mit euch!«
»Und auch mit dir.«
»Ketzer!«
Der Schrei donnerte über die Menge hinweg. Tom sah hinauf zur Empore, wo Albert Fletcher auf dem Geländer stand, mit dem Kruzifix in der Hand, bereit zu springen.
17 Uhr 07, – 5 Grad, Windabkühlungsfaktor: – 11 Grad
Mitchs Schulter war so verspannt, daß er vor Schmerz zusammenzuckte, als er sich an das Steuer seines Explorer setzte. Er hatte den Großteil des Tages damit verbracht, die Büsche nach Albert Fletcher abzuklopfen und das mit Marty Wilhelm im Schlepptau, der wie ein hyperaktiver Spürhund um ihn herumtanzte, sowie einem Schwarm von Presseleuten hinter sich.
»Chief Holt, haben sie irgendwelche Kommentare zum Rauswurf von Agent
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