Sünden der Nacht
abschminken. Sie war nicht einmal sein Typ. Winzig und kratzbürstig hatte ihn noch nie angemacht. Seine Frauen mußten groß und elegant sein, warm und süß. So wie Allison es gewesen war. Nicht wie dieses Bündelchen von irischem Temperament und feministischer Aggression.
»Ja«, murmelte er und raffte all seinen Sarkasmus zusammen. »Guter Zug, O’Malley. Vergessen Sie’s einfach. Wär nicht gut, sich dabei erwischen zu lassen, daß Ihre Fraulichkeit sich zeigt.«
Das tat weh, wie er beabsichtigt hatte, aber der Treffer brachte keine Befriedigung. Alles was sich in ihm regte, waren Schuldgefühle und ein Hauch von Bedauern, welches er momentan nicht weiter erforschen wollte.
Eine der Eingangstüren krachte auf, das Geräusch polterte durch die Stille wie ein Gummiball.
»Chief!« brüllte Noga. »Chief!«
Mitch rannte los, der Knoten in seinem Magen wuchs sekündlich, als er die Bande entlangsprintete. Bitte, lieber Gott, laß ihn sagen, daß er Josh gefunden hat. Und laß ihn am Leben sein. Aber noch während er sich das wünschte, sammelte sich kalter Angstschweiß auf seiner Haut, und Furcht packte ihn mit knochigen Fingern am Hals.
»Was ist denn?« rief er, als er seinen Beamten sah.
Noga sah blaß und niedergeschlagen aus, sein Gesicht eine Maske der Angst. »Du solltest dir das besser ansehen.«
»O mein Gott«, flüsterte Mitch verzweifelt. »Ist es Josh?«
»Nein. Komm einfach mit.«
Megan rannte hinter ihnen her aus dem Gebäude. Die Kälte traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Sie schloß den Reißverschluß ihrer Jacke, zerrte die Handschuhe aus den Taschen und streifte sie über. Ihr Schal hing über einer Schulter und flatterte wie ein Banner hinter ihr her, bis er schließlich abfiel, als sie über den Parkplatz sprintete.
Mitch rannte voraus, lief mit seinen Lederschuhen über das zerfurchte Eis wie ein Leichtathletikstar. Etwa in der Mitte des hinteren
Endes des Platzes standen drei weitere Uniformierte dicht zusammengedrängt neben den verwucherten kahlen Büschen. »Was?« brüllte er. »Was habt ihr gefunden?«
Keiner sagte etwas. Sie sahen einander an, stumm und schockiert.
»Verflucht noch mal!« schrie er. »Wird einer von euch endlich das Maul aufmachen?«
Lonnie trat einen Schritt zur Seite, und ein Strahl künstlichen Lichts fiel auf eine Nylontasche. Jemand hatte in großen Blockbuchstaben JOSH KIRKWOOD darauf gemalt.
Mitch fiel im Schnee auf die Knie, die Tasche lag wie eine tickende Bombe vor ihm. Sie stand etwas offen, und ein Stück Papier ragte aus der Öffnung, knatterte im Wind. Er nahm das Papier vorsichtig am Rand und zog es langsam aus der Tasche.
»Was ist es?« keuchte Megan und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. »Lösegeldforderung?«
Mitch faltete das Papier auseinander und las es durch – zuerst schnell, dann noch einmal langsam, und mit jedem getippten Wort wurde sein Blut kälter.
ein Kind ist verschwunden Unwissenheit ist nicht Unschuld, sondern SÜNDE
Kapitel 6
TAG 1 21 Uhr 22, – 7 Grad
»Kindern fallen die verrücktesten Sachen ein«, sagte Natalie. Sie fertigte Truthahnsandwiches an auf der Küchentheke, während hinter ihr die Kaffeemaschine zischte und spuckte. »Troy hat mir auch einmal so eine Nummer geliefert. Er war damals zehn oder elf. Hat einfach beschlossen, er geht jetzt von Tür zu Tür und verkauft Zeitungsabos, damit er ein ferngesteuertes Auto gewinnt. Er war so davon besessen, den Preis zu gewinnen, daß er an so etwas Unwichtiges wie seiner Mutter Bescheid zu sagen nicht mehr denken konnte. Meine Mutter anrufen? Warum soll ich sie anrufen, wo ich sie sowieso jeden Tag sehe?
Sie schüttelte angewidert den Kopf und schnitt das Sandwich mit einem Messer von der Größe einer mittleren Säge durch. »Wir haben damals in Twin Citys gelebt, und es war genau die Zeit, in der in Minneapolis die Straßenbanden im Vormarsch waren. Sie können sich gar nicht vorstellen, was mir alles durch den Kopf gegangen ist, als Troy um halb sechs immer noch nicht zu Hause war.«
O doch. Dieselben Gedanken jagten in einer endlosen Schleife durch Hannahs Kopf, eine Sequenz von Horrorszenarios. Sie lief auf der anderen Seite der Küchentheke auf und ab, viel zu nervös, um sich zu setzen. Bis jetzt hatte sie es nicht fertiggebracht, sich umzuziehen, ihre Arbeitskleidung abzulegen. Der dicke Pullover roch nach Schweiß von der Anstrengung und dem Streß bei Ida Bergen. Ihre schwarze Strumpfhose kniff um die Taille, und ihre langer Wollrock
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