Sünden der Nacht
war schlaff und zerknittert. Die Stiefel hatte sie aus Gewohnheit an der Tür ausgezogen.
Sie ging neben der Theke auf und ab, die Arme symbolisch verschränkt, um sich zusammenzuhalten, den Blick unablässig auf das
Telefon gerichtet, das stumm unter einer Wandtafel mit Telefonnummern gluckte. Mom im Krankenhaus. Dad im Büro. 911 in Notfällen. Alles von Josh mit bunten Farbstiften gemalt. Eine Hausaufgabe für die Woche der Sicherheit.
Panik brandete wieder in ihr auf.
»Ich sage Ihnen, ich war wie eine Verrückte«, fuhr Natalie fort und goß Kaffee ein. Sie goß ein bißchen halbfette Milch in beide Tassen und stellte sie auf die Bar, neben den Teller mit Sandwiches. »Wir haben die Polizei angerufen. James und ich sind losgefahren, um ihn zu suchen. Dann hätten wir ihn fast überfahren. So haben wir ihn gefunden. Er fuhr im Dunkeln mit seinem Rad herum, versessen darauf, dieses verdammte Spielzeug zu gewinnen. Er hatte einfach keine Zeit, auf den Verkehr zu achten.«
Hannah warf ihrer Freundin einen Blick zu, als die Stille immer länger wurde und merkte, daß sie jetzt etwas sagen sollte. »Was habt ihr gemacht?«
»Ich bin aus dem Auto gesprungen, noch bevor James auf Parken schalten konnte, schreiend wie ein Jochgeier. Wir waren direkt vor der Synagoge. Ich hab so laut gebrüllt, daß der Rabbiner herausgerannt kam. Und was sieht er da? Irgendeine verrückte schwarze Frau, die dieses arme Kind schüttelt, daß ihm die Zähne klappern. Also geht er wieder rein und ruft die Polizei. Sie kommen mit fliegenden Fahnen und Sirenen angebraust. Inzwischen habe ich den Jungen natürlich fest im Arm und hab geweint und geschrien: – Mein Baby! Mein kleines Baby!« Sie kreischte nach oben an die Decke, wedelte mit den Armen. Dann rollte sie die Augen, schürzte ihre Lippen und schüttelte den Kopf: »Wenn ich mir das so im nachhinein überlege, hätten wir Troy gar nicht zu bestrafen brauchen. Er hat sich zu Tode geschämt.«
Hannah hatte sich wieder ausgeklinkt. Sie starrte das Telefon an, als wolle sie es mit schierer Willenskraft dazu zwingen, zu läuten. Natalie seufzte, weil sie wußte, daß sie nicht mehr tun konnte, als sie ohnehin schon tat. Sie machte Kaffee und Sandwiches, nicht weil irgend jemand Hunger hatte, sondern weil es etwas Normales, Vernünftiges war. Sie redete ununterbrochen, um Hannah abzulenken und die ominöse Stille zu brechen.
Die gute Seele ging um die Küchentheke herum, legte die Hände auf Hannahs Schultern und schob sie zu einem der Hocker davor. »Setz dich und iß etwas, Mädchen. Dein Blutzucker muß inzwischen im Keller sein. Es ist ein Wunder, daß du noch stehen kannst.«
Hannah lehnte sich gegen den Hocker und starrte den Teller mit Sandwiches an. Sie hatte zwar seit dem Mittagessen keinen Bissen mehr zu sich genommen, aber brachte auch jetzt keinen herunter. Sie wußte, daß sie es versuchen sollte – um ihrer selbst willen, und weil Natalie sich so viel Mühe gab. Sie wollte Natalie nicht verletzen. Sie wollte niemanden enttäuschen.
Das ist dir heute bereits zweimal gelungen.
Sie hatte einen Patienten verloren – und Josh.
Das Telefon schwieg.
Im Wohnzimmer, wo der Fernseher vor sich hin flimmerte, wachte Lily auf und kletterte von der Couch. Sie stapfte auf sie zu, rieb sich ein Auge mit der Faust, mit dem anderen Arm hatte sie einen Plüschdalmatiner am Kopf eingeklemmt. Hannahs Herz zog sich beim Anblick ihrer Tochter schmerzlich zusammen. Lily war mit ihren achtzehn Monaten immer noch ihr Baby, die Verkörperung von Unschuld und Süße. Sie hatte blonde Haare und blaue Augen wie ihre Mutter und keinerlei Ähnlichkeit mit Paul, was Paul gar nicht gerne hörte. Nach all den Peinlichkeiten, die er hatte erdulden müssen bei den langen Bemühungen, Lily zu zeugen, hätte er es zumindest verdient, daß seine Tochter ihm ähnlich sah.
Durch die Gedanken an Paul wurde Hannah das stumme Telefon noch bewußter. Er hatte noch nicht angerufen, trotz mehrerer hektischer Nachrichten auf seiner Telefonautomatik.
»Mama?« sagte Lily und steckte ihr ihre freie Hand entgegen, ein stummer Befehl, sie hochzunehmen.
Hannah gehorchte bereitwillig, drückte ihre Tochter fest an sich und kuschelte ihre Nase an den kleinen Körper, der nach Puder und Schlaf roch. Sie wollte Lily so nahe wie möglich bei sich haben und hatte sie nicht mehr aus den Augen gelassen, seit sie sie vom Babysitter geholt hatte.
»Hallo, Schnuckelchen«, flüsterte sie und wiegte sie hin und her,
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