Sünden der Nacht
sich zu essen, Sie brauchen alle Kraft, die Sie kriegen können. Zwingen Sie sich zu schlafen. Verschreiben Sie sich selbst etwas, falls nötig.«
Hannah steckte pflichtschuldigst ein Stück des zerfledderten Gebäcks in ihren Mund und kaute, ohne etwas zu schmecken. Lily schaute verwirrt hoch zu ihr. Megan nahm noch ein Stück vom Blech, legte es auf einen anderen Teller und schob es über den Tisch. Ohne zu fragen. Wie eine Freundin, dachte Hannah. Was für ein seltsamer Zeitpunkt, eine Freundin zu finden.
»Was ich brauche«, sagte sie, »ist Beschäftigung. Ich weiß, daß ich hierbleiben soll, aber es muß doch etwas geben, was ich tun kann.« Megan nickte. »Okay. Die Freiwilligen in der Einsatzzentrale adressieren Handzettel, die im ganzen Bezirk verteilt werden. Tausende. Ich schicke jemanden mit einem Stapel rüber, den Sie bearbeiten können. In der Zwischenzeit: Wie wär’s, wenn Sie über diese Spur nachdenken? Kennen Sie irgend jemanden mit einem Van, der auch nur im entferntesten dieser Beschreibung entspricht? Haben Sie irgendwo einen geparkt gesehen, der Ihnen seltsam vorkam? In der Nähe der Schule oder des Krankenhauses oder des Sees?«
»Ich achte nicht auf Autos. Der einzige Van, der mit einfällt, ist der Schrotthaufen von Paul, als er seine Phase als großer weißer Jäger hatte.«
»Wann war das?« fragte Megan; ihr Puls beschleunigte sich automatisch.
Hannah zuckte mit den Schultern. »Vor vier oder fünf Jahren. Als wir gerade von den Twin Cities hergezogen waren. Er hatte einen alten weißen Van, mit dem er seine Jagdkumpel und die Hunde herumschipperte, aber der ist verkauft. Jagen war zu unordentlich für Paul.«
»Wissen Sie, an wen er ihn verkauft hat? Jemanden, den Sie kennen?«
»Ich weiß es nicht mehr. Es hat mich nicht interessiert.« Ihre Augen weiteten sich entsetzt, als ihr plötzlich klar wurde, was das bedeuten könnte.
Mitchs Fragen am Mittwoch abend hatten in dieselbe Richtung gezielt. Und sie hatte die Möglichkeit verdrängt, daß jemand, der in ihrem Haus gewesen war, an ihrem Tisch parliert hatte, dem sie vertraut hatten, sich so brutal gegen sie wenden könnte. Doch noch während ihr Herz diesen Verdacht ablehnte, ließ ihr Verstand bereits die Namen und Gesichter aller, die sie kannte, Revue passieren, aller, die sie nicht besonders mochte, jeden, der am Rande ihres Bekanntenkreises zu finden war.
»Wir können es nicht ausklammern«, sagte Megan. »Wir können momentan leider noch gar nichts außer acht lassen.«
Hannah zog ihr Baby fester an sich, ohne Rücksicht auf die klebrigen Finger und ein Gesicht voller Zuckerguß und Zimt. Sie starrte ins Leere und wiegte Lily. Ihre Gedanken waren bei Josh – wo er sein könnte und was er vielleicht durchmachte. Grauenhaft genug, wenn er die Todesangst durch einen Fremden erfahren mußte, aber wie unsagbar entsetzlich durch jemanden, den er kannte und mochte, so leiden zu müssen. Es passierte ständig. Sie las es in der Zeitung, sah es im Fernsehen, war in einer Position gewesen, in der es darum ging, Schäden an anderer Leute Kinder zu heilen.
»Mein Gott«, flüsterte sie. »Was ist nur aus dieser Welt geworden?«
»Wenn wir das wüßten«, spann Megan den Faden weiter, »könnten wir es vielleicht aufhalten, bevor es immer weitergeht.«
Sie verstummten. Lilys Augen streiften durch die Küche, und sie strampelte ein bißchen, zog ihren Kopf unter dem Kinn ihrer Mutter heraus, sah hinauf in das schöne Gesicht, das alle Antworten auf ihre Fragen kannte, und piepste: »Mama, Josh?«
8 Uhr 22, – 11 Grad
Megan spürte Paul Kirkwood auf dem Parkplatz am Rand des Lyon State Park auf, sieben Meilen westlich der Stadt. Der Hauptsuchtrupp war hier versammelt – Beamte des Sheriffbüros, Beamte von der Hundestaffel der Polizei in Minneapolis mit einem Trio bellender Schäferhunde, Freiwillige aus allen Lebenssparten, so viele Menschen, daß der Parkplatz voll war und zusätzlich eine halbe Meile in beiden Richtungen alle Bankette vollgeparkt. Vier Vans von Fernsehstationen standen mitten auf der Straße und blockierten die Autos. Ihre Satellitenschüsseln ragten von den Autodächern in den Himmel und schickten Berichte nach Minneapolis, St. Paul’s und Rochester.
Megan parkte hinter dem KTTC-Van und ging auf die versammelte Menschenmenge zu. Russ Steiger brüllte Anordnungen und posierte für die Kameras, die Hände in die schmalen Hüften gestützt, die Beine gespreizt und seinen scheelen Blick hinter einer
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