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Sündenfall: Roman (German Edition)

Sündenfall: Roman (German Edition)

Titel: Sündenfall: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anya Lipska
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hin und her springend und mit starren Mienen, durch ein polnisches Hip-Hop-Stück. Janusz mochte ein verknöcherter alter Opa sein, aber bei Musik wie dieser bekam er Gänsehaut. Den stumpfen Rhythmus und den abgedroschenen Text empfand er als Beleidigung seiner melodiösen und schönen Muttersprache.
    »Gefällt Ihnen die Musik nicht?«, fragte Justyna und schmunzelte über seine gequälte Miene.
    »Nein. Ihnen vielleicht?«
    Sie zuckte die Achseln. »Klar. Ich mag die verschiedensten Richtungen.«
    »Als ich in Ihrem Alter war und in Krakau Physik studiert habe«, sagte er, »waren Kellerkneipen mit traditioneller Musik der letzte Schrei. Heute würde man es wahrscheinlich Folk nennen.«
    Ihre Miene war aufmerksam, aber distanziert. Sie hatte ein Gesicht, das man nicht aus den Augen zu lassen wagte, weil ihm Gefühle so schwierig anzumerken waren.
    Er hielt inne und erinnerte sich an die Nächte von damals. Die schrillen Geigen, die aufwühlenden Klänge, vermischt mit ungezähmter Zigeunermusik. Oft war auch noch eine klagende Frauenstimme dabei. Er wurde von Wehmut ergriffen und trank einen Schluck Bier, um seine Stimmung zu überspielen. »Die Sache war, dass die besch… Verzeihung … dummen Kommunisten traditionelle Musik für staatstragend und harmlos hielten – aber natürlich waren die alten Partisanenlieder, die davon handelten, dass man sein Herz in einem Rucksack herumtrug, Dynamit. Wir haben zur Musik mit den Füßen gestampft, gejubelt und mitgesungen und sind auf die Tische geklettert. Und nach der Sperrstunde waren meine Kumpel und ich so aufgedreht und voller Wodka, dass wir mit den Polizeistreifen Räuber und Gendarm gespielt und überall in der Stadt Solidarność -Graffiti hingemalt haben.«
    »Sind Sie je erwischt worden?«, fragte sie. Ihr leicht neugieriger Ton klang, als erkundige sie sich nach Dingen, die im neunzehnten Jahrhundert geschehen waren, nicht erst vor zweieinhalb Jahrzehnten. Er zögerte.
    »Nur einmal. Wir waren zu dritt. Meine Kumpel ließen mich an den Beinen von einer Eisenbahnbrücke baumeln, damit ich irgendeinen Spruch pinseln konnte. Ich glaube, es war › TV = LÜGE ‹. Als die milicja kam, schafften es die Jungs gerade noch, mich hochzuziehen. Doch als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, hauten sie ab, und mich haben sie gekriegt.«
    »Was ist mit Ihnen passiert?«
    Er wandte sich ab. »Nicht viel. Eine Nacht in einer Zelle, ein paar Klapse, und am nächsten Morgen wurde ich wieder heimgeschickt.«
    Schwachsinn. Die milicja hatte ihn hinten in einen Transporter geworfen und ihn ins Montelupich gebracht, Krakaus berüchtigtes Gefängnis, wo die Sowjets nach dem Krieg Hunderte von polnischen Nationalisten gefoltert und ermordet hatten. Offenbar hatten sie in dieser Nacht Langeweile und steckten deshalb sehr viel Zeit und Mühe in die Aufgabe, einen Siebzehnjährigen wegen eines Schuljungenstreichs zu verhören – vielleicht hatten sie ja auch Freude an ihrem Beruf. Janusz trug Blutergüsse und Platzwunden davon, die wochenlang nicht heilten. Doch das war eine Kleinigkeit, verglichen mit der wahren Hinterlassenschaft jener Nacht, die er in sich herumtrug wie einen Schatten auf einer Röntgenaufnahme. Er drängte die Erinnerungen zurück. Vergiss die Vergangenheit .
    Das Mädchen und Janusz betrachteten den flackernden Bildschirm. Inzwischen saßen die beiden Jungen in einem Auto und wippten wie Zombies im Takt vor und zurück. Der nächste Schnitt zeigte einen der beiden, allein und gehend, darauf folgte eine Weitwinkelaufnahme, auf der er als winzige, einsame Gestalt in einer gewaltigen und tristen Einöde zu sehen war.
    Sie wies mit dem Kinn darauf. »Er ist wie Sie, als Sie jung waren.«
    »Wie ich?«
    »Sie und Ihre Freunde, damals unter den Komunistuw . Das Leben war schlecht, und die Gesellschaft war nicht die Ihre. Diese Musik bedeutet für die jungen Leute heute dasselbe wie damals Ihre Folksongs. Sie sagt, scheiß auf die Gesellschaft, wir machen, was wir wollen.«
    Er wusste, dass es inzwischen bei jungen Frauen üblich war, Kraftausdrücke zu benutzen, insbesondere wenn sie nach England kamen. Dennoch schockierte es ihn noch immer fast körperlich. Als er in ihrem Alter gewesen war, wäre es undenkbar gewesen, in Gegenwart von Erwachsenen solche Worte in den Mund zu nehmen.
    »Empfinden Sie so für das heutige Polen?«, fragte er.
    Sie senkte den Blick und trank einen Schluck Apfelsaft. »Wahrscheinlich will ich eines Tages zurück«, erwiderte

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