Sündenfall: Roman (German Edition)
den Geist aufgegeben. Fluchend zog Kershaw erst ihre Kleider und dann einen Wintermantel an und eilte in die winzige Kochnische, um alle vier Gasflammen anzuzünden.
Während sie am letzten Abend den K2 bestiegen hatte, hatten die Jungs Brownings Geburtstag begossen. Beinahe wäre sie mitgegangen, doch zum Glück hatte Ben Crowther sie gewarnt und ihr mit einer Miene, die besagte, dass so etwas eindeutig auch nicht nach seinem Geschmack sei, zu verstehen gegeben, das Geburtstagskind wolle einen Lapdance-Club in Shoreditch aufsuchen. Nein danke . Im Revier zu den Jungs zu gehören war ja gut und schön. Doch auf den Anblick, wie Browning sich von einer ganzkörperenthaarten alleinerziehenden Mutter mit Doppel-D-Implantaten die Eier polieren ließ, konnte sie gut verzichten.
Als sie Milch in ihren Tee gab, schwebten im nächsten Moment gelbliche Klümpchen an die Oberfläche. Verdammt. Nachdem sie sich einen neuen gekocht hatte, diesmal eben ohne Milch, ging sie damit ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Sie trank einen Schluck Tee – schwarz zu herb – und überlegte, wie sie heute die Zeit finden konnte, ihrer Hausverwaltung zuzusetzen, geschweige denn, woher sie den halben Tag Urlaub nehmen sollte, wenn der Handwerker wegen des Boilers kam. Das Leben war um einiges weniger anstrengend gewesen, als Mark noch hier gewohnt hatte. Nicht, dass er ein den Schraubenschlüssel schwenkender Heimwerkergott gewesen wäre. Nein, Mark bemannte einen Schreibtisch bei einer Immobilienfirma in den Docklands, und die einzigen technischen Geräte, mit denen er umgehen konnte, waren die Fernbedienungen für Glotze und Sky-Plus-Receiver. Doch es war so viel einfacher, wenn man sich die lästigen Haushaltspflichten mit jemandem teilen konnte.
Während sie ihren letzten überlebenden Fingernagel attackierte – eine nicht loszuwerdende Angewohnheit, die ihr im Revier schon einige Sprüche eingebracht hatte –, fiel ihr Blick auf die staubige Oberfläche des Fernsehschränkchens und das dunklere Rechteck, wo der Plasmabildschirm gestanden hatte. Bei ihrer Trennung vor einem Monat hatte sie ihn Mark überlassen.
Wie bin ich nur so weit gekommen, allein in einer Mietwohnung zu sitzen, die ich mir nicht leisten kann, und schwarzen Tee im Wintermantel zu trinken?, fragte sie sich und spürte plötzlich, wie Tränen in ihr hochstiegen.
Zum Trost hielt sie sich vor Augen, wie unerträglich die Stimmung zwischen ihr und Mark in den letzten Wochen geworden war, als ihre tote Beziehung wie eine verwesende Leiche in der Wohnung herumlag und sie über sie hinwegstiegen oder darum herumgingen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Verglichen damit war ihr die Phase davor noch lieber gewesen. Die Unstimmigkeiten hatten begonnen, nachdem Kershaw die Stelle bei der Kriminalpolizei in Newham angetreten und angefangen hatte, zwei- oder dreimal pro Woche spät und mit einigen Bieren intus nach Hause zu kommen. Falls sie Glück hatte, schlief Mark schon, wenn sie neben ihn ins Bett kroch. War er jedoch noch wach, war der Ärger vorprogrammiert. Er beschwerte sich, weil sie nach Alkohol und Zigaretten roch, doch sie wussten beide, dass das nicht das eigentliche Thema war. Mark konnte einfach nicht begreifen, dass sie mit den Jungs einen trinken ging, weil Zusammenhalt in ihrem Beruf ein Muss war, und nicht etwa, weil sie auf einen ihrer Kollegen stand . Der Streit uferte immer mehr aus, und dann zog er natürlich über ihre Ausdrucksweise her – Seit du bei den Bullen bist, Nat, redest du nicht mehr wie ein Mädchen, sondern wie ein Kerl .
Der letzte Vorwurf tat zwar weh, aber man konnte sich schließlich nicht den ganzen Tag gegen eine Horde von Machos durchsetzen und sich zu Hause in Cheryl Cole verwandeln. Manchmal fühlte sie sich, als wäre ihr in den letzten Jahren tatsächlich ein Y-Chromosom gewachsen.
Außerdem hatte sich Kershaw unter Männern immer wohler gefühlt – wahrscheinlich, weil sie bei ihrem Vater aufgewachsen war. Ihre Kinderfotos sprachen für sich – Fußballspiele mit ihm und seinen Freunden im Park … mit ihrem ersten selbst gefangenen Fisch – ein Karpfen – am Walthamstow Reservoir … mit einem Hammers-Schal vermummt, auf dem Weg ins Stadion. Dad hatte ihr immer wieder gesagt, er habe es nie bedauert, keinen Sohn zu haben, da er mit ihr zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen könne – ein wunderschönes, kluges kleines Mädchen, das es außerdem schaffe, in weniger als zehn Minuten einen Billardtisch
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