Sündenfall: Roman (German Edition)
der Kamera posierte; sein Kiefer verspannte sich. Ein toller Verlobter, dachte er.
Justyna nickte. »Sie war aufgeregt wie ein kleines Kind an Heiligabend«, erwiderte sie und konnte sich dabei ein Lächeln nicht verkneifen.
»Hat sie erwähnt, wo sie hinwollte, wo sie wohnen würden?«
Sie schüttelte den Kopf. Doch da sie den Blick abwandte, vermutete er, dass sie log.
»Sie sagte, sie wollten bald weg aus London. Pawel müsse nur noch etwas Geschäftliches erledigen, und dann würden sie zurück nach Hause fahren, um zu heiraten.« Sie riss die Augen auf. »Und das, nachdem sie ihn erst seit ein paar Wochen kannte!«
Justynas Besorgnis ging Janusz nah. Obwohl sie höchstens fünf oder sechs Jahre älter war als Weronika, hatte sie offenbar ihren Mutterinstinkt geweckt.
»Ich habe versucht, es ihr auszureden«, sprach sie weiter. »›Stell dir nur vor, wie entsetzt deine Mama sein wird, wenn sie hört, dass ihr kleines Mädchen mit einem Mann durchgebrannt ist, den sie kaum kennt‹, habe ich zu ihr gemeint.«
»Aber es hat nichts genützt?«
»Sie ist ein bisschen still geworden«, antwortete Justyna. »Aber dann erwiderte sie, ihre Mama würde kein Problem damit haben, solange ihr niemand den Nachschub an cytryn ó wka abschneidet.« Sie warf ihm einen Blick zu. Der süßliche Zitronenwodka war das Lieblingsgetränk der Obdachlosen – und der alkoholabhängigen Hausfrauen. »Nika hat mir erzählt, sie habe sie beim Nachhausekommen aus der Schule oft bewusstlos auf dem Küchenfußboden gefunden.«
Offenbar war Mama selbst fast noch ein Kind gewesen, als sie mit Weronika schwanger geworden war. Das kleine Mädchen war ohne Vater aufgewachsen und hatte außer seiner chaotischen betrunkenen Mutter nur noch einen entfernten Onkel gehabt, der alle Jubeljahre einmal zu Besuch kam.
Das arme Kind, dachte Janusz. Kein Wunder, dass sie sich bis über beide Ohren in den erstbesten Menschen verliebt hatte, der ihr Zuneigung entgegenbrachte. So wie ein Vogeljunges, das sich auf den fixierte, der es fütterte, ganz gleich, wie unpassend das Objekt der Liebe auch sein mochte.
Inzwischen gab es im Lokal nur noch Stehplätze, und die Menschenmassen drängten sich um den Tisch, an dem Janusz und Justyna saßen. Die hämmernde Musik, die lauten Stimmen und das Gewühl sorgten dafür, dass Janusz flau im Magen wurde. Deshalb war er sehr erleichtert, als das Mädchen vorschlug zu gehen, weil sie morgen früh im Restaurant anfangen müsse.
Er bestand darauf, Justyna zu ihrer Wohnung zu begleiten, die sich anderthalb Kilometer westlich am entgegengesetzten Ende von Stratford und am anderen Ufer des Lea befand. Ihr Weg führte sie durch das Stadtzentrum, wo man angesichts der Musik und des Stimmengewirrs, die aus den erleuchteten Türen der Pubs und Clubs wehten, und der Gruppen von Rauchern auf dem Gehweg hätte vermuten können, dass die Nacht gerade erst angefangen hatte, obwohl es schon nach elf und außerdem Dienstag war. Als sie an der Einmündung einer Gasse neben einem Pub vorbeikamen, hörte Janusz schrille Stimmen und sah im Dämmerlicht zwei Männer, die einen dritten, kleineren an die Wand schoben. Er erstarrte und spannte die Muskeln an. Doch eine Sekunde später wurde ihm die Bedeutung der Szene klar: Der kleine Mann war sturzbetrunken. Sein Kopf kippte nach vorne, und seine Gliedmaßen waren schlaff. Die anderen beiden, die sich ebenfalls kaum noch auf den Beinen halten konnten, versuchten nur, ihren Freund vor einem Sturz zu bewahren.
Janusz und Justyna wechselten einen Blick und gingen weiter. Niemand hätte die Polen als Abstinenzler bezeichnet, doch richtig getrunken wurde ausschließlich zu Hause, während öffentliche Trunkenheit als anstößig galt. Janusz’ Mutter, die als Kind vor dem Krieg in London gewesen war, hatte die Engländer stets lobend als reserviert und zurückhaltend beschrieben, weshalb der erste Freitagabend unterwegs mit den Kollegen ein ziemlicher Schock gewesen war. Und dennoch hatte es damals als das größte Kompliment für einen Mann gegolten, er könne etwas vertragen. Wer umkippte oder eine Schlägerei vom Zaun brach, wurde mit Mitleid oder Verachtung bestraft.
Justyna lebte in einer Wohngemeinschaft in einem ordentlichen Wohnblock, der einer Genossenschaft gehörte. Auf der Straße vor dem Haus drehte sie sich zu ihm um und sog wegen der Kälte den Rauch ihrer Zigarette bis tief in die Lunge. »Danke für die Einladung«, meinte sie.
»Gern geschehen.« Er zog an seiner
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