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Sündenfall: Roman (German Edition)

Sündenfall: Roman (German Edition)

Titel: Sündenfall: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anya Lipska
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oder der Mutter des Mädchens falsche Hoffnungen machen?
    »Nein, Pater«, erwiderte er so tröstend wie möglich. »Wir können nur hoffen, dass unser verirrtes Lamm erkennt, welchen Ärger es sich eingebrockt hat, und freiwillig nach Hause kommt.«

ZEHN
    W enn man ein Plakatmotiv suchte, um Mädchen vom Drogenkonsum abzuschrecken, hätte die Tote das Casting glatt gewonnen.
    Das war Kershaws erster Gedanke beim Anblick der nackten Leiche, die in einer demütigenden Pose auf der schneeweißen Fläche des Doppelbettes lag. Die langen Beine, so weit angewinkelt, dass die Fersen fast den Po berührten, waren auseinandergefallen, sodass sie nun ausgebreitet war wie bei einer Geburt oder beim Frauenarzt.
    Im Zimmer war es heiß und roch scharf nach Schweiß, kürzlichem Sex und abgestandenem Zigarettenrauch.
    Der Spurensicherungsexperte, ein Strebertyp, der wie Kershaw einen weißen Schutzanzug mit Kapuze trug, kniete auf der anderen Seite des Bettes. Sie nickte ihm zu. »Alles in Ordnung, Dave?« Er brummte etwas und wandte sich wieder der Wodkaflasche zu, von der er gerade Fingerabdrücke sicherte.
    Kershaw näherte sich der Leiche, wobei sie darauf achten musste, in ihren Überschuhen aus Plastik nicht auszurutschen. Der Kopf des Mädchens war zur Seite gedreht, sodass die rechte Wange auf der Matratze ruhte und das Gesicht zum Teil vom Haar verdeckt wurde. Die rechte Hand lag unter dem Kinn, und ein Finger berührte die Lippen – als fordere sie jemanden zum Schweigen auf. Das halb verhüllte Gesicht und die zufällige Geste gaben der Toten etwas Geheimnisvolles.
    Kershaw, die noch nie einen erst vor kurzem gestorbenen Menschen gesehen hatte, bekam plötzlich das Bedürfnis, die Leiche zu berühren. Sie blickte sich um: Dave hatte ihr den Rücken zugewandt, und der uniformierte Kollege, der zuerst am Tatort gewesen war, klebte gerade die Tür ab. Also beugte sie sich vor und legte den behandschuhten Handrücken auf die Brust des Mädchens. Die Haut war noch erstaunlich warm, fühlte sich jedoch … leblos an – es fehlten die körperlichen Vorgänge, die sonst darunter abliefen: Blut, das durch die Adern rauschte, Zellen, die sich erneuerten, elektrische Impulse.
    Auf dem Nachttisch befanden sich drei Tabletten – dick, kalkig rosafarben und nicht ganz kreisrund. Daneben, auf dem Hochglanzcover der Hotelbroschüre, entdeckte Kershaw zwei ordentliche Linien eines weißen Pulvers, die an Straßenbahnschienen erinnerten.
    Der uniformierte Kollege, ein ungewaschen riechender Mann mittleren Alters, stellte sich ein wenig zu dicht neben sie.
    »Tolle Party«, sagte er mit einem Seitenblick und wartete auf eine Reaktion.
    »Die wird sicher einen schrecklichen Kater haben«, entgegnete Kershaw mit unbewegter Miene und zückte ihr Notizbuch.
    »War sonst noch jemand im Zimmer, seit das Zimmermädchen sie gefunden hat?«, arbeitete sie die Liste in ihrem Kopf ab.
    Das zwanzigstöckige Waveney Thameside war ein nagelneues Fünfsternehotel, in der Konzernsprache als »destination hotel« bezeichnet und bei wohlhabenden Touristen und Geschäftsreisenden gleichermaßen beliebt. Man hatte es auf das vermutlich letzte freie Grundstück zwischen Wapping High Street und Fluss gezwängt und, wie Kershaw sich erinnerte, in einem Höllentempo hochgezogen. Mark hatte sie hier zu einem Champagnerfrühstück im Restaurant mit Blick auf den Fluss eingeladen, nachdem sie die Stelle bei der Kriminalpolizei in Newham bekommen hatte.
    Die Leiche war von einem Zimmermädchen gefunden worden, das das Zimmer 1313 (für manche Leute wirklich eine Unglückszahl, dachte Kershaw) betreten hatte, um sauberzumachen. Sie hatte gedacht, der Gast sei ausgegangen und habe nur vergessen, das »Bitte nicht stören«-Schild vom Türknauf zu entfernen. Der Polizeiarzt war schon da gewesen und hatte die Frau um 12:55 für tot erklärt.
    Bei ihrer Ankunft war Kershaw von Andrew Treneman, dem Hoteldirektor, sofort in sein Büro geführt worden. Offenbar war er ganz und gar nicht scharf darauf, unter den Gästen herumzuposaunen, dass die Polizei im Haus war. Allerdings war er sehr hilfsbereit und hatte bereits die Belegungsliste herausgesucht, die zeigte, dass Zimmer 1313 von einem Mann angemietet worden war, der kurz nach ein Uhr morgens allein eingecheckt hatte. Sein Name lautete dem Kreditkartenausdruck zufolge Stephen Lampart, und er hatte ein ruhiges Zimmer ohne andere Gäste links und rechts verlangt.
    Dave kniete neben dem Nachttisch und verstaute das

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