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Sündenfall: Roman (German Edition)

Sündenfall: Roman (German Edition)

Titel: Sündenfall: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anya Lipska
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war Schauplatz der berühmten Belagerung im Jahr 1939 gewesen, als die Nazis in Danzig einmarschiert waren. In einem Himmelfahrtskommando hatten einige Postboten und Pfadfinder die Angriffe von mit Artillerie bewaffneten SS -Einheiten in gepanzerten Wagen nur mit Handgranaten und verschiedenen Schusswaffen abgewehrt und fünfzehn Stunden lang die Stellung gehalten, bis die Deutschen das Gebäude mit brennendem Benzin aus Flammenwerfern beschossen hatten.
    Janusz wich Oskars Blick aus. Er wollte ihn nicht daran erinnern, dass der Platz vor dem Postamt vierzig Jahre später Zeuge eines weiteren vergeblichen Aufstands geworden war – der Kundgebung, bei der Iza ihren letzten Atemzug getan hatte.
    »Nein, keine Lust«, erwiderte er und zählte genügend Zlotyscheine ab, um das Essen zu bezahlen. »Ich habe eine bessere Idee. Wollen wir doch mal sehen, ob du Manns genug bist, bis auf die Kirchturmspitze zu steigen.«
    Janusz hatte befürchtet, dass seine Geburtsstadt schmerzliche Erinnerungen in ihm wachrufen würde. Doch als er und Oskar sich auf den Weg zur Marienkirche machten, fühlte er sich aus unerklärlichen Gründen fremd. Das Kopfsteinpflaster unter seinen Füßen und die Schreie der Möwen über seinem Kopf waren noch genauso wie früher, und das Panorama hatte sich nicht geändert. Und dennoch machte alles einen seltsam surrealen Eindruck.
    Im nächsten Moment bemerkte er einen kleinen Jungen mit einem gelben Luftballon in der Hand, und ihm wurde klar, was ihn so aus dem Konzept brachte. Die Straßenszenen seiner Kindheit waren trist, ja, fast völlig einfarbig gewesen, nur aufgelockert von den roten Fahnen der Besatzer, die vor den Regierungsgebäuden wehten. Nun sah die D ł uga , die Hauptstraße der Stadt, mit den bunten Markisen der Straßencafés und den frisch gestrichenen Altbauten im hellen Sonnenschein beinahe überladen aus. Er war froh über die unwirkliche Atmosphäre, denn sie spannte einen Schleier zwischen ihn und die Vergangenheit, sodass er sich vorkam wie jeder andere Tourist.
    Während sie inmitten einer Menschenmenge durch die in eine Fußgängerzone verwandelte Altstadt schlenderten, stieß Oskar Janusz mit dem Ellbogen an. »Und wo hast du es zum ersten Mal gemacht?« Seine dröhnende Stimme brachte ihm einige schockierte Blicke von Passanten ein.
    »Brüll nicht so rum, Oskar«, zischte Janusz. »Du bist hier nicht in England.«
    Auf der nahe gelegenen Mariacka , der Marienstraße, wurden die strengen gotischen Fassaden mit ihren steinernen Wasserspeiern in der Form von Tierköpfen, die Janusz als kleinen Jungen gleichzeitig geängstigt und fasziniert hatten, von Sonnenschirmen aus weißem Leinen verdeckt. Sie gehörten zu Buden, die Schmuck und Lebkuchen feilboten.
    »Ich bringe Gosia etwas aus Bernstein mit«, verkündete Oskar und blieb an einer Bude stehen.
    Janusz wartete mit verschränkten Armen, während Oskar einige Stücke ans Licht hielt, sie kritisch beäugte und in der Hand wog und sich mit den Steinen an die Zähne klopfte. Schließlich entschied er sich für einen asymmetrischen, in eine ovale Silberbrosche eingelassenen Brocken.
    »Warum kaufst du nicht etwas für Kasia?«, fragte er, während er sein Geld gegen eine mit einer gelben Schleife umwickelte Schachtel eintauschte.
    Janusz zuckte verlegen die Achseln. »Ich weiß nicht, ob Bernstein ihr gefällt.« Vielleicht wusste er ja gar nichts über sie, dachte er bedrückt, als ihm das Nagelstudio einfiel.
    »Sie ist doch eine Frau, oder?«, meinte Oskar, als spräche er mit einem zurückgebliebenen Kind. »Mir soll jemand eine Frau zeigen, die keinen Schmuck mag. Richtig, Schätzchen?«, wandte er sich an die junge Verkäuferin, die nur verlegen lächelte.
    Janusz’ Blick fiel auf eine Kette aus winzigen grünen Bernsteinperlen, die die Farbe von Seegras in einem Felsenteich hatten, und er bat das Mädchen, sie einzupacken, plötzlich überzeugt, dass sie genau das Richtige für Kasia war.
    Als sie das Touristenviertel hinter sich ließen, wurden die Straßen ruhiger und schäbiger, und in immer mehr Schaufenstern hingen vergilbte Zettel mit der Aufschrift »Zu vermieten«. Oskar blieb stehen und spähte durch die schmutzigen Scheiben eines verfallenen staatlichen Lebensmittelladens. »Schau nur, Janek«, sagte er. »Genau wie früher.«
    Widerstrebend beugte Janusz sich vor, hielt die Hand an die Scheibe und blickte hinein. Die alten, angerosteten Kühlschränke und die fächerförmige Waage auf der staubigen Theke

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