Sündenflut: Ein Merrily-Watkins-Mystery (German Edition)
würde losbrechen.
«Er hat das früher schon gemacht», sagte Helen. «Das letzte Mal hat er sich ein Zimmer im Castle House oben an der Straße genommen. Er hat auch ein Büro mit Kleidung zum Wechseln, und am nächsten Tag ist er direkt dorthin gegangen. Nach seiner Pensionierung wurde das Rathaus beinahe zu seinem … einzigen Lebensinhalt.»
Merrily nickte.
«Die Polizei wollte wissen, warum ich ihn nicht als vermisst gemeldet habe. Ich habe versucht, es zu erklären, aber sie wirkten nicht sehr überzeugt.» Sie umschloss mit beiden Händen die Tasse.
«Oh Gott.»
«Wenn Sie sagen, die Polizei …»
«Es war ein Mann mit einem Akzent aus dem Norden.»
«Liverpool?»
«Möglich.»
Die strategische Scheinheiligkeit der Polizei. Als ob sie an dem Abend, an dem eine Frau ihren Mann als vermisst meldete, überhaupt etwas unternehmen würden. Selbst wenn es jemand war, den man aus der
Hereford Times
kannte.
Helen Ayling setzte sich auf, stellte Tasse und Untertasse auf den Tisch und schüttelte den Kopf.
«Ich kann es immer noch nicht glauben. Es ist zu entsetzlich. Was haben sie mit ihm gemacht? Er war zu Fuß unterwegs. Haben sie ihn hier am Haus abgepasst? Haben sie ihn irgendwohin gebracht …»
«Nicht.»
Sophie beugte sich vor und nahm Helens Hand. In Sophies Augen stand pure Empörung. Dass so etwas
hier
passieren konnte. In diesem sicheren, exklusiven Stadtteil. Dieser Denkmalschutzzone. Unterhalb der Kathedrale, der Sophie diente.
«Die Polizei hat das ganz Haus durchsucht», sagte Helen. «Und den Garten. Den
Werkzeugschuppen
…»
Ja, den Werkzeugschuppen hatten sie sich wohl ansehen müssen.
«Kommen Sie heute Abend mit zu uns, Helen?»
«Sophie, vielen Dank, aber … Ich muss hier bleiben, oder? Solange, bis … Muss mich an die Situation gewöhnen.»
«Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist, Mrs. Ayling», sagte Merrily. «Ich fürchte, bald wird das Haus belagert … die Presseleute, das Fernsehen. Das ist einer der Gründe, aus denen Ihnen angeboten wurde, dass eine Kontaktbeamtin bei ihnen bleibt. Damit sie Ihre Privatsphäre schützt, wenn … der Name Ihres Mannes bekanntgegeben wird.»
«Vor den eigenen Gedanken können sie einen aber nicht schützen, oder?»
«Was das angeht», sagte Sophie, «dachte ich, Merrily könnte vielleicht … ein bisschen mit Ihnen beten.»
«Sophie …» Helen Ayling wirkte alles andere als begeistert. «Ich glaube nicht, dass …»
«Ich verstehe, dass das Beten in so einem Moment ziemlich schwer sein kann», sagte Merrily.
Helen Ayling nickte. Ihre Augen klappten zu wie bei einer altmodischen Puppe. «Ich habe es noch gar nicht richtig begriffen. Sie haben nicht mal …» Ihre Lider flatterten, als sie die Augen wieder aufschlug und Merrily ansah. «Ihr Mann … war er … war sein Körper … konnte er von Ihnen identifiziert werden?»
«Nein. Er ist auf der Autobahn an einen Brückenpfeiler gerast. Mit Hochgeschwindigkeit.»
Seans Körper war zermalmt und zerfetzt und mit den Körperteilen seiner Geliebten vermischt worden.
In diesem Moment wurde der Klopfer an der Eingangstür zweimal betätigt. Helen Ayling und Merrily zuckten zusammen.
«Bleiben Sie hier.» Sophie stand auf und ging zur Tür. «Ich sehe nach, wer es ist.»
Helen nickte schwach und zog ihre dunkelgrüne Strickjacke enger um die Schultern. Merrily fühlte sich in ihrer Soutane vollkommen deplatziert, wie eine Art Todesengel. Sie sah in Helen Aylings Augen keine echte Trauer, nur Schmerz und Abwehr. Wenn diese Ehe im Himmel geschlossen worden war, dann stimmte im Himmel irgendetwas nicht.
«Das Blackfriars-Kloster», sagte Helen. «Ich war nie dort. Ich bin sicher, dass mein Mann nie davon gesprochen hat. Und diese … Betsäule.
Warum
…»
Und dann war Sophie zurück, in den Händen ihren grauen Mantel, Merrilys Umhang und den feuchten Regenschirm.
«Es ist wieder die Polizei. Nicht Bliss, dieses Mal, Merrily. Es sieht so aus, als wäre er von seiner Vorgesetzten abgelöst worden.»
«Howe?»
Sophie nickte. Merrily stand sofort auf. Wenn es Howe war, dann war sie besser nicht da.
«Helen, wir können in der Küche warten», sagte Sophie. «Wir verhalten uns ganz still.»
«Bitte kochen Sie sich einen Tee, wenn Sie möchten.» Helen durchquerte mit gesenktem Kopf den Raum. «Ich lasse sie rein.»
An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Sie wirkte klein und verzweifelt, wie ein Kind, das sich im Kaufhaus verlaufen hat.
«Warum kommen sie noch mal her?
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