Sündenkreis: Thriller (German Edition)
Gemeinde verließ. Es war Melinda Weiß bis jetzt nicht gelungen, herauszufinden, zu wem Frieder Wörth ging und was er dort tat. Dem musste Einhalt geboten werden.
Wenn er ihm die Aufnahmen vorspielte, würde er ihn fragen, was sein Sohn davon hielte, wenn er den Vater so sähe. Marcel war noch ein Kind. Und er bedeutete seinem Vater alles. Der Mann konnte nicht wollen, dass der Junge erfuhr, was er da mit einer Fünfzehnjährigen – und das nicht nur einmal – angestellt hatte. Romain Holländer grinste und lief ein bisschen schneller. Wenn Wörth auch sonst nichts bewegte, dieser Film würde es tun.
Vorsichtig öffnete er die Tür zu Frieder Wörths Wohnraum. Er würde den Mann jetzt wecken und ihn mit nach unten nehmen. Leise tappte Romain Holländer zu dem Raumteiler in der Mitte des Zimmers. Der Strahl der Taschenlampe beschrieb einen Bogen und leuchtete dann auf eins der beiden Betten. Romain Holländer hörte sich selbst ein- und wieder ausatmen. Marcels Locken waren zerstrubbelt. Unter der Decke konnte man seine kleine Gestalt erahnen. Dann ließ er den Schein der Lampe auf das andere Bett gleiten. Es war leer.
Frieder Wörth drückte leise die Tür ins Schloss. Dann zog er den Schal dichter um den Hals und lief los. Die lichtlose Nacht strich mit eisigen Fingern über sein Gesicht. An der Straßenbahnhaltestelle blinkte eine altersschwache Neonreklame. Die Schienen glänzten im Licht der zwei müden Bogenlampen. Fröstelnd hauchte Frieder in seine Handflächen, klappte die Ohrenschützer seiner Mütze herunter und verbarg die Finger dann wieder in den Jackentaschen. Die Handschuhe hatte er vergessen. Sie lagen zu Hause auf dem Regal neben der Tür.
Von links näherte sich die Bahn. Die hell erleuchteten Fenster warfen gleitende Lichtvierecke auf den Asphalt, während die Straßenbahn bremste. Die Luft im Innern war warm und roch nach feuchter Kleidung. Frieder Wörth ging an einem schlafenden Mann vorbei ganz nach hinten und setzte sich. Ein müdes Klingeln, dann fuhr die Bahn mit einem Rucken los.
Marcel würde tief und fest schlafen, das hatte er in den letzten Wochen immer getan. Das Beruhigungsmittel, das die Ärztin dem ruhelosen Vater verschrieben hatte, wirkte wunderbar. In den ersten Nächten hatte Frieder noch wachgelegen und seinen Sohn beobachtet, aber der Junge war nicht ein einziges Mal wie all die Nächte vorher schreiend aus Albträumen erwacht. Nach zwei Wochen nächtlicher Wachsamkeit hatte Frieder beschlossen, dass es an der Zeit war, das Experiment zu wagen und den Kleinen für eine kurze Zeit allein zu lassen. Nach seiner Rückkehr hatte Marcel sich nicht gerührt und so blieb es auch in den darauffolgenden Nächten, sodass Frieder die Zeit seiner Abwesenheit nach und nach immer mehr hatte ausdehnen können. Jetzt kam er manchmal erst frühmorgens zurück, eine halbe Stunde, bevor der Junge aufstehen musste, und auch dann schlief er noch fest. Manchmal hatte er Mühe, ihn zu wecken.
Draußen huschten die kahlen Bäume eines kleinen Parks vorbei, halb verfallene Häuser folgten.
Frieder Wörth legte die Wange an Scheibe und spürte der Kälte des Glases nach. In den letzten Monaten hatte er zunehmend Angst um das Wohlergehen seines Sohnes gehabt. Marcel war nicht mehr das fröhliche, unbeschwerte Kind, das er einst gewesen war. Es mochte daran liegen, dass seine Mutter ihn und den Vater so plötzlich verlassen hatte, es konnte aber auch noch andere Ursachen haben. Ein Elterngespräch mit Marcels Lehrerin im Januar hatte das diffuse Gefühl noch verstärkt. Marcels Leistungen hätten sich verschlechtert, hatte die Frau ihm erklärt, und dass sie sich Gedanken mache, weil der Junge sich immer mehr abkapsele. Das Leben in der Gemeinschaft schien dem Kind nicht zu bekommen. Die Straßenbahn ratterte um die Kurve, und Frieder Wörth wurde fester gegen die Wand zu seiner Rechten gepresst.
Die Hoffnung, dass die Gemeinde dem Kind über den Verlust der Mutter hinweghelfen würde, hatte sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil. Das Leben bei den Kindern des Himmels schien Marcel eher dazu zu bringen, sich zurückzuziehen. Und für ihn selbst war es auch nicht gut.
Frieder Wörth dachte an die »Weihe« von Sophie und seinen Part dabei. Die Scham kroch ihm über den Hals ins Gesicht hinauf. Was er da getan hatte, war Sünde gewesen. Er wollte ein gottgefälliges Leben führen und wurde Tag für Tag aufs Neue in Versuchung geführt. Es gab keine Entschuldigung für sein Verhalten. Der
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