Sündenkreis: Thriller (German Edition)
hatte ja eigentlich einen ganz anderen Tätigkeitsbereich. Die Models hasteten an ihr vorbei, Absätze klapperten auf dem Betonboden. Lara ließ den Fotoapparat noch ein paarmal klicken. Nicht alle der Mädchen waren so klapperdürr, wie sie es erwartet hatte. Manche von ihnen sahen aus, als würden sie tatsächlich ab und zu etwas essen. Aber die Rootdesign -Absolventen konnten sich keine hauptberuflichen Models leisten, schließlich waren sie Studenten, und die Vorbereitung der Abschlusspräsentationen, die benötigten Stoffe, die Näherei und das Zubehör hatten sie schon eine Menge Geld gekostet. Also halfen sie sich gegenseitig. Studentinnen oder Freundinnen führten die Kreationen vor. Das Geschnatter entfernte sich, und als habe jemand plötzlich an einem Regler gedreht, wurde es still im Raum. Erst jetzt fiel Lara auf, was für eine Lautstärke vorher geherrscht hatte. Sie rutschte ein bisschen nach links unter den Heizpilz, dann blätterte sie die Seite mit den hastig hingeschmierten Notizen um und studierte noch einmal die Hintergrundinformationen, die sie recherchiert hatte.
Drei Kollektionen hatte Lara Birkenfeld in den letzten Tagen schon gesehen und ihre Verblüffung über die Fantasie der jungen Designer und die Gestaltung ihrer Entwürfe war von Mal zu Mal gewachsen. Sogar tragbare Modelle waren dabei gewesen, obwohl es hier nicht primär um Kommerz, sondern um Kreativität und Handwerk ging.
Krähennest nannte sich »Tor B. Hoff« und war der heimliche Star unter den Absolventen. In Wirklichkeit hieß er Torben Hoffmann. Aber das war ihm wohl zu profan erschienen, und so hatte er sich einen Künstlernamen zugelegt.
Die anderen Absolventen, zwei junge Frauen und ein Mann, waren bei weitem nicht so theatralisch wie er gewesen, obwohl man auch ihnen die Aufregung deutlich angemerkt hatte. Lara lächelte und malte einen Smiley auf ihr Blatt. Aber »Tor B. Hoff« war anders. Sie hatte seine Kollektion vorab gesehen. Und der Junge hatte Talent, Affektiertheit hin oder her. Lara sah auf die Uhr.
Noch zwei Stunden bis zum Beginn der Show. Sie konnte noch einmal nach draußen gehen und etwas frische Luft schnappen.
Das stillgelegte Fabrikgebäude und die glitzernde Modewelt bildeten einen Anachronismus, wie er größer nicht sein konnte. Aber wahrscheinlich machte gerade das den Reiz aus: der Gegensatz von unverputztem Mauerwerk, rostigen Stahlträgern und Dreck auf der einen und seidenweichen Stoffen, überschminkten Models und Glamour auf der anderen Seite.
Die graue Eisentür stand halb offen, und Lara trat auf den Hof hinaus. Die buckligen Pflastersteine waren rutschig, und sie war froh, dass sie flache Stiefel trug. Über ihr kreisten schwarze Vögel. In einer Ecke türmten sich schmutzig graue Schneereste. Der Maschendrahtzaun neben der Einfahrt hatte meterbreite Löcher. Ein eisiger Lufthauch wehte heran und ließ sie frösteln. Lara beschloss zurückzugehen. Vielleicht gelang es ihr, beim Catering einen heißen Tee abzustauben.
Die Rootdesign- Absolventen bemühten sich jedes Jahr, eine neue, spannende Location für ihre Schauen zu finden. Letztes Jahr hatten die Präsentationen im Malsaal des Theaters stattgefunden. Und dieses Jahr war es die alte Seilfabrik.
Lara fragte sich, wer die Genehmigung erteilt hatte, in diesen baufälligen Hallen Hunderte von Leuten herumgeistern zu lassen, vergaß aber den Gedanken schnell wieder. Für ihre Artikelserie war das Ambiente wie geschaffen. Nur die Kälte hatten die Veranstalter nicht im Griff. Obwohl in den überdachten Fabrikhallen überall elektrische Heizstrahler standen, zog es an allen Ecken und Enden.
Auch in dem Gebäudeteil, in dem die Schauen stattfanden, war es nicht besonders warm. Nur die Umkleide- und Schminkräume waren mit ausreichend Heizpilzen versehen, schließlich mussten sich die Frauen hier bis auf die Unterwäsche ausziehen.
Der Tapeziertisch mit den Schnittchen war fast leergeräumt. Lara griff nach einer Thermoskanne und goss sich Tee ein. Den heißen Becher mit beiden Händen umfassend, marschierte sie von Kleiderständer zu Kleiderständer und musterte die an den Querstangen angeklebten Polaroids. Ziffern zeigten die geplante Reihenfolge des Defilees an. Lara lauschte einen Moment auf das entfernte leise Geschnatter und nickte einer älteren Frau, die auf einem Hocker neben Tor B. Hoffs Entwürfen saß, zu.
Das Foto am letzten Kleiderständer betrachtete sie länger. Das Mädchen auf dem Bild war sehr hübsch und sehr
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