Sündenkreis: Thriller (German Edition)
nicht die Richtigen für so einen Anruf waren. Mark Grünthal, Psychologe und gleichzeitig ein guter Freund, hatte Familie. Sicher wäre seine Frau nicht sonderlich erfreut, wenn Lara ihn nachts um halb eins aus dem Bett klingelte. Auch ihre Freundin Doreen kam nicht infrage. Und so hatte sie sich für Joachim Selbig entschieden. Von ihm wusste sie, dass er spät zu Bett ging. Jo war freier Fotograf, arbeitete unter anderem für die Tagespresse . In den letzten Monaten war er ihr zunehmend ans Herz gewachsen.
»Zuerst wollte ich noch in die Redaktion fahren, aber als es immer später wurde, habe ich mir das geschenkt. Die heutige Ausgabe ist längst in Druck.« Lara trat von einem Fuß auf den anderen und betrachtete den hell erleuchteten Eingang der Fabrikhalle, durch den Männer in weißen Overalls hinein- und herausgingen. Die Kälte kroch ihr unter die gefütterte Jacke.
»Und nun?«
»Die Kripo hat unsere Personalien aufgenommen. In den nächsten Tagen werden wir alle zu Befragungen vorgeladen.« Lara stöhnte. Das hatte ihr noch gefehlt, stundenlang auf dem Revier zu sitzen und zu warten, dass man drankam, um dann von zwei unfreundlichen Beamten ausgequetscht zu werden.
»Willst du auf einen heißen Tee vorbeikommen?« Jo klang besorgt. »Oder einen Grog? Dann kannst du mir alles in Ruhe erzählen.« Lara dachte an die späte Stunde und die Wärme des Alkohols in ihrem Blut, biss sich auf die Lippen und schwieg.
»Du willst dich doch jetzt nicht zu Hause vergraben und grübeln!«
»Ist dir das nicht zu spät?«
»Dann hätte ich es nicht angeboten. Los, schmeiß dich in dein Auto und komm her!«
Lara nickte unmerklich. Jo hatte recht. Sie würde jetzt so oder so keinen Schlaf finden. »Na gut. Setz schon mal Wasser auf.« Sie schaltete das Handy ab und machte sich auf den Weg zu ihrem Auto.
»Und die Tote auf der Bahre war das für das Brautkleid vorgesehene Model?« Jo saß nach vorn gebeugt in seinem Sessel und hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt.
»Ja. Carolin hieß sie. Den Nachnamen habe ich nicht richtig verstanden.« Lara pustete auf ihren Grog. Allmählich kehrte das Leben in ihre klammen Glieder zurück.
»Hast du Fotos gemacht?«
»Jede Menge. Ich habe geknipst, was das Zeug hielt.«
»Wollen wir uns die zusammen ansehen oder würde dich das zu sehr aufregen?«
»Ich glaube nicht. Außerdem bin ich schon aufgewühlt.« Lara klappte ihre Handtasche auf, holte den Fotoapparat heraus und hielt ihn Jo hin. Der nahm den Speicherchip heraus und verließ den Raum. Lara sah sich um. Sie war noch nie bei Jo zu Hause gewesen. Das Wohnzimmer hatte eine opulente Stuckdecke und Parkettboden. Die Einrichtung war jedoch eher funktional, typisch für einen alleinlebenden Mann. Nirgendwo waren Bilder von Familienangehörigen zu sehen. Sie hatte keine Ahnung, ob Jo jemals verheiratet gewesen war, ob er Kinder hatte und was in seinem Privatleben sonst noch so passierte, und im Moment auch keine Vorstellung, ob sie dies überhaupt wissen wollte. In den letzten Monaten waren sie ab und zu miteinander ausgegangen: ins Kino, ins Theater, in Szeneklubs; aber die Abende hatten jedes Mal damit geendet, dass sie sich vor ihrer Haustür verabschiedet hatten.
»Komm mal rüber, Lara!« Jos Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Hoffentlich hatte er den Rechner nicht im Schlafzimmer. Sie nahm ihre halbvolle Tasse mit und überquerte den Flur. Jo saß an einem riesigen alten Schreibtisch, auf dem zwei Monitore nebeneinanderstanden. Und es war das Arbeitszimmer, Gott sei Dank. Die Wände hingen voller Naturaufnahmen.
»Setz dich. Ich hab alles runtergeladen. Du willst doch sicher einen Artikel darüber schreiben, oder?«
»Na klar. Der ursprüngliche Bericht über die diesjährigen Absolventen kann ja nun nicht so bleiben, wie geplant. Allerdings hat die Kripo uns bis morgen« – Lara sah auf die Uhr und korrigierte sich – »bis heute einen Maulkorb verpasst. Oder besser gesagt, haben sie darum gebeten, dass die Presse sich mit Details zurückhält, bis sie mehr wissen.«
»Verstehe.« Jo vergrößerte das erste Foto. »Das ist wohl vor der Show?«
Lara trank ihren Grog aus und nickte. Während sie Bild für Bild erklärte, trug Jo gleichzeitig Dateinamen und geschätzte Uhrzeit ein. So würde der Computer die Bilder dann in der richtigen Reihenfolge sortieren. Als sie zu den ersten Laufstegfotos kamen, hielt er inne. »Noch einen Grog?« Lara nickte, obwohl ihre Wangen inzwischen gerötet waren und sie
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