Sündenkreis: Thriller (German Edition)
Tätowierer hatte genau so ein Gerät verwendet.
»Du bist invidia .« Der Mann sprach in feierlichem Ton. »Besser gesagt, du stehst für invidia . Stellvertretend für alle anderen Sünder.« Julias Augen hatten sich inzwischen an das helle Licht gewöhnt, und so konnte sie sehen, dass der Mann lächelte. Sanftmütig. »Weißt du, was invidia bedeutet?« Er wartete kurz, sprach dann weiter. »Nein, wie auch? Keiner von euch hat Ahnung von den wirklich wichtigen Dingen. Invidia steht für Neid, Missgunst oder auch die Eifersucht. Kannst du dir vorstellen, warum ich gerade dich dafür ausgewählt habe?«
Julia krächzte ein atemloses »Nein« heraus und verschluckte das nachfolgende »verflucht nochmal«.
»Ihr seid alle gleich.« Er lächelte jetzt nicht mehr. »Aber ich werde es dir genau wie den anderen erklären. Danach.« Er hob die Tätowiermaschine. Das Gerät begann zu sirren. »Zuerst die Vorarbeiten.« Julia Seemann versuchte, ihre Beine zu bewegen und bemerkte erst jetzt, dass auch die Füße gefesselt waren. Sie war am ganzen Leib verschnürt wie ein Paket.
Während sich der Mann nach vorn beugte, und ihr seinen Pfefferminzatem ins Gesicht blies, beleuchtete das Licht nun auch sein Gesicht. In diesem Augenblick detonierte die Erkenntnis in Julia Seemanns Kopf. Sie würde sterben. Und sie wusste noch immer nicht, woher sie diesen Mann kannte. Sie wusste nur, dass er zu ihr von Sünde gesprochen hatte.
*
Lara malte Kringel um die Namen und Telefonnummern der beiden Therapeuten, die Mark ihr genannt hatte. Er war der Meinung gewesen, das Video sei ein Versuch, Frieder Wörth zum Schweigen zu bringen, hatte ihr aber unabhängig davon empfohlen, die Kripo zu informieren. Stellte es sich als Fake heraus – umso besser für Wörth, war es echt, dann handelte es sich wahrscheinlich um eine Straftat. Lara hatte ihm gesagt, dass das Mädchen auf dem Tisch betäubt wirkte und es definitiv nicht nach einvernehmlichem Sex aussah. Dazu kam, dass die Kripo Möglichkeiten hatte, das Morphing von Bildern rückgängig zu machen. Sie betrachtete die Schäfchenwolken am tiefblauen Himmel. Seit drei Tagen taute es. Lara dachte an Jo. Wo mochte er stecken? Seit seiner SMS und der gestrigen E-Mail hatte er sich nicht wieder gemeldet.
Sie schaute, ohne etwas zu sehen, zur anderen Straßenseite hinüber. Jetzt hatte sie doch vergessen, Mark zu fragen, was er ihr für das Gespräch mit Wörth riet. Sollte sie dem Mann sagen, dass sie dieses Video von ihm und dem Mädchen kannte, wenn sie ihn wegen der Therapeuten für seinen Sohn anrief? Was, wenn er sich erneut mit ihr treffen wollte? War er womöglich gefährlich? Sie beschloss, spontan zu entscheiden. Und nun würde sie schnell Isi anrufen, um sie vorzuwarnen, und dann wieder nach oben gehen und Tom ihre Kündigung auf den Tisch legen. Lara lächelte der Frau zu, die ihren Zwillingskinderwagen vorbeischob und öffnete die Eingangstür.
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»Wissen Sie, wo er hinwollte?« Das Handy an ihrem Ohr war ein bisschen nassgeschwitzt. Lara blieb vor dem Eingang zum Parkhaus stehen und schaute in den Himmel. Das dümmliche Grienen wollte gar nicht von ihrem Gesicht weichen. Wieder und wieder spulte sich wie in einer Endlosschleife die Szene in Toms Büro vor ihrem inneren Auge ab. Sein hasserfülltes Gesicht, als sie hereingekommen war. Wie sein Unterkiefer herabgesackt war und sich die Augen geweitet hatten, als sie ihm, ohne auf seine wütende Tirade einzugehen, ihre Kündigung auf den Tisch gelegt hatte. Sein perplexes Herumgestottere. Und schließlich die Erkenntnis in seinem Blick, dass er ihr nichts tun konnte. Lara kicherte. Sie war frei!
»Dazu kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben.«
Lara verscheuchte die Erinnerung an die Vorfälle in der Redaktion und konzentrierte sich wieder auf das Telefonat. Die Frau aus dem Autohaus schien zu wissen, wohin Frieder Wörth so plötzlich verschwunden war, wollte aber anscheinend am Telefon nicht darüber sprechen. Vielleicht würde sie im persönlichen Gespräch redseliger sein. Lara bedankte sich und legte auf.
Sie konnte jetzt sofort dahin fahren und mit der Angestellten sprechen. Der Nachmittag war noch lang, und sie hatte ihren Job verloren. Wenn sie ehrlich war, hatte sie ihn nicht »verloren«, sondern hingeschmissen , und eigentlich hätte sie deswegen trotzdem erst einmal bis zum Tag ihrer Entlassung weiterarbeiten müssen, aber Tom hatte ihren letzten Satz »Und jetzt setze ich meine Überstunden ab«
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