Sündenkreis: Thriller (German Edition)
widerstandslos hingenommen. Vielleicht war er auch nur zu perplex gewesen, um es ihr zu untersagen. Jedenfalls hatte sie nun Zeit. Viel Zeit, um zu recherchieren und ein paar lose Enden zusammenzuführen. Sie hatte ihr Auto erreicht und stieg ein.
»Hören Sie, ich muss Herrn Wörth unbedingt erreichen. Es geht um seinen Sohn.« Das war nicht einmal gelogen. Lara sah, wie die junge Frau mit den viel zu schwarzen Haaren hinter der Empfangstheke von einem Fuß auf den anderen trat. Sie beschloss, nichts hinzuzufügen und die Worte einfach einsickern zu lassen. Die Schwarzhaarige sah über die Schulter, dann nach rechts und links. Gleich würde sie sprechen. Lara schenkte ihr ein ernstes »Sie tun das Richtige«-Nicken.
»Er hat einen Anruf erhalten. Eine Frau war dran und wollte ihn sprechen. Dringend. Es ginge um ihre Kinder, hat sie gesagt. Ob ich Frieder bitte ans Telefon holen könnte. Das habe ich natürlich gemacht. Er hat kurz mit ihr geredet, sich dann entschuldigt und ist gleich los.«
Lara verstand nur Bahnhof. »Ihre Kinder«? Hatte Frieder Wörth außer Marcel noch mehr Kinder? Aber sie würde herausfinden, was da los war. Sie wiederholte ihre Frage von vorhin. »Wissen Sie denn, wo er so eilig hinwollte?«
»Seinen Sohn von der Schule abholen. Es handele sich um einen Notfall, hat er noch gesagt. Haben Sie eine Ahnung, was da passiert ist?« Die junge Frau schaute Lara mit erwartungsvollen Augen an. Wahrscheinlich glaubte sie, die Journalistin wisse, worum es hier ging, hatte diese doch vorhin ebenfalls von Frieder Wörths Sohn gesprochen.
»Nein, ich bin genauso ratlos wie Sie.«
»Aber, Sie …« Die Angestellte brach ab und schüttelte den Kopf. »Na, egal.« Ein weiterer Kunde war hereingekommen, und sie wandte sich ab.
»Hatte Herr Wörth vor, heute noch einmal zurückkommen?«
»Davon hat er nichts gesagt. Und nun«, bunt bemalte Plastikfingernägel wedelten, »muss ich mich um die Kundschaft kümmern. Wiedersehn.« Die Schwarzhaarige setzte ein nervöses Lächeln auf und begrüßte den sich nähernden Mann mit: »Was kann ich für Sie tun?«
Lara ging langsam hinaus. Frieder Wörth hatte einen Anruf von einer ihm bekannten Frau erhalten. Etwas war mit »ihren Kindern« vorgefallen. Wohin würde der Mann fahren, nachdem er seinen Sohn aus der Schule abgeholt hatte?
Im Gehen rief sie Jos Nummer auf, wurde von der Mailbox begrüßt und hinterließ eine leicht genervte Nachricht, dass es neue Entwicklungen im Fall Wörth gegeben habe und dass er sie endlich mal zurückrufen könne. Dann machte sie sich auf den Weg nach Markkleeberg.
Die Schneeberge an den Straßenrändern waren getaut und hatten braunem Gras Platz gemacht. Von der Spitze einer Fichte lugte eine Blaumeise herab. Lara marschierte zu dem schmiedeeisernen Tor und spähte durch die Stäbe auf das Grundstück, ehe sie klingelte und in das Videoauge lächelte. Romain Holländer würde sie wahrscheinlich nicht auf das Grundstück lassen, aber vielleicht war er ja nicht da. Nach einer Minute drückte sie den Klingelknopf erneut und kurz darauf ein drittes Mal. Das breite Lächeln war zu einer Clownsgrimasse erstarrt und begann allmählich in ihren Mundwinkeln zu schmerzen, aber Lara behielt es bei. Als sie ein viertes Mal klingelte, verstärkte sich das Gefühl, das Videoauge mustere sie eindringlich. Die Wechselsprechanlage blieb stumm. Lara trat dichter an das verschnörkelte Gitter, legte die Hände um das kalte Metall und sah nach drinnen. Außer einer braunen Amsel, die die vertrocknete Wiese bearbeitete, regte sich nichts. Waren tatsächlich alle ausgeflogen, oder stellten die Menschen da drinnen sich tot?
Lara begann, Buchstaben in ihr Handy zu tippen. Wenn Jo sich schon nicht meldete, so konnte sie ihm doch wenigstens die aktuellen Ereignisse in einer Kurznachricht schicken. Ein leises Knacken ließ sie innehalten. Drinnen bewegte sich das Garagentor. Hastig schob sie das Handy in die Jackentasche. Es sah aus, als ob doch jemand zu Hause war. Und dieser Jemand würde wahrscheinlich gleich am Steuer eines Autos aus der Garage gefahren kommen. Neben Lara summte das Eisentor. Hier funktionierte anscheinend alles elektrisch. Die beiden Flügel öffneten sich und schwangen langsam nach innen.
Noch ehe sie sich entschieden hatte, was zu tun war, kam auch schon der weiße Lieferwagen herausgeprescht und fuhr direkt an ihr vorbei. Die Räder knirschten über den Kies und schleuderten Steinchen beiseite. Im Vorbeifahren erhaschte
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