Sündenkreis: Thriller (German Edition)
Sehen Sie den Strahlenkranz um ihn herum?« Jetzt redete Stefan Reinmann schneller. Er war erregt. Das Bild und die Darstellung der Todsünden schienen ihn zunehmend in ihren Bann zu ziehen. »Das ist das Auge Gottes. Jesus Christus befindet sich in der Pupille. Gott sieht alles, sagt die Inschrift. Das mittlere Bild der Todsündentafel ist gleichzeitig Auge und Spiegel. Außerdem symbolisiert es die Weltkugel. Was Gott in der Welt sieht, spiegelt sich um seine Pupille herum.«
»Das sind dann wohl die sündigen Menschen, die er da sieht.« Lara konnte es nicht fassen. Sie saß hier gefesselt mit einem Mann, der mindestens fünf Menschen getötet hatte, und diskutierte mit ihm über einen niederländischen Maler des ausgehenden Mittelalters.
»Sehr richtig.« Stefan Reinmann hielt jetzt das Bild nur noch mit der Linken. Mit dem rechten Arm gestikulierte er zunehmend heftiger in der Luft herum. »Es ist die Welt, die den Menschen zu Laster und Sünde verführt. Und es ist ein Spiegel für den Betrachter, der damit seinen christlichen Glauben überprüfen kann. Insgesamt achtundzwanzig menschliche Figuren sind dargestellt. Die Zahl achtundzwanzig ist eine der vier vollkommenen Zahlen des Mittelalters! Sie ist nicht nur gleich der Summe ihrer echten Teiler, sondern auch die Summe der Zahlen von Eins bis Sieben. SIEBEN !« Jetzt schrie er. Kleine Speicheltröpfchen flogen durch die Luft. Lara schaute zu Boden, um ihn nicht noch mehr zu reizen. Sie musste sich etwas einfallen lassen, um den Mann zu beruhigen. Wer weiß, wozu er in seiner Rage fähig war.
»Sie wollten also den Menschen genau wie Hieronymus Bosch einen Spiegel vorhalten?« Stefan Reinmann hielt inne, runzelte die Stirn und schaute verblüfft auf Lara, als sehe er sie zum ersten Mal. Dann schüttelte er den Kopf, wischte sich mit dem Ärmel über dem Mund und begann, das Bild einzurollen. »Die Welt ist voller Sünde. Die Menschheit wird zugrunde gehen, wenn niemand ihrem Tun Einhalt gebietet. Die Menschen müssen zur Gottesfurcht zurückkehren. Wie könnte man ihnen das besser verdeutlichen, als mit menschlichen Beispielen für die Todsünden?«
»Dieses Brautmodel stand doch für die Eitelkeit, nicht?«
» Superbia , ja. Das Mädchen war eingebildet und hochnäsig, sie hielt sich für die Schönste.«
»Wie haben Sie sie kennengelernt?«
»Ich kannte sie nicht persönlich.«
Lara beobachtete, wie der Sektenmann zwei Gummiringe über das Bosch-Bild rollte und es vorsichtig beiseitelegte. Dann setzte er sich neben der Tür auf den Boden und faltete die Hände im Schoß. »Auf Carolin Fresnel bin ich durch die Presse aufmerksam geworden. Sie war ja jede Woche in der Zeitung oder im lokalen Fernsehen zu sehen. Ich habe sie einfach angerufen, ihrer Eitelkeit geschmeichelt und ihr vorgemacht, ich wäre ein international arbeitender Agent, der sie buchen wolle. Ganz einfach das Ganze.«
Lara sah die Trage mit dem toten Model herabschweben, hörte das leise »Plopp« der ersten Blutstropfen, bevor das Geschrei einsetzte, sah Torben Hoffmann mit aufgerissenem Mund. »Wie sind Sie an das Brautkleid gekommen?«
»Das war gut, nicht?« Ein schiefes Grinsen huschte über das Gesicht des Sektenbeauftragten, und Lara stellte fest, dass er stolz auf sein Tun war. Das konnte ein möglicher Ansatzpunkt sein, um den Mann einzuwickeln.
»Ich habe es einfach gestohlen. In dieser Hochschule gibt es fast keine Sicherheitsvorkehrungen. Und ich brauchte dieses Brautkleid, um meine Botschaft zu unterstreichen. Superbia sollte in einer öffentlichen Veranstaltung präsentiert werden. Was lag da näher, als diese absurde Zurschaustellung weltlicher Dinge? Leider hatte ich mich ein wenig in der medialen Präsenz bei dieser Modenschau getäuscht.«
»Ich war dort.«
»Das weiß ich. Ich stand oben auf dem Gerüst und habe alles beobachtet. Sie haben Fotos von dem toten Model gemacht und darüber in Ihrer Zeitung geschrieben. Danke dafür.« Stefan Reinmann klatschte leicht in die Hände, als wollte er ihr Beifall spenden. »Auch wenn Sie die wahren Gründe für ihren Tod nicht erkannt haben.«
Lara tat so, als schaue sie den Sektenbeauftragten an, versuchte aber stattdessen, die Beschaffenheit der Tür neben ihm zu erkunden. »Und die zweite? Diese Nina?«
»Das war eine Hure. Jedes Wochenende hat sie irgendwelche Typen abgeschleppt, manchmal mehrere in einer Nacht. Es ging ihr nicht um Liebe. Wollust war es, was diese Frau angetrieben hat. Nina Bernstein war das ideale
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