Sündenkreis: Thriller (German Edition)
das Gefühl hatte, Fieber zu bekommen. Aber sie glaubte, dass der Alkohol ihr helfen würde, die grausigen Bilder zu kommentieren.
»Damit fing es an?« Jo deutete auf das Bild, auf dem ein Model seine rote Handfläche betrachtete, den Mund zu einem erstaunten »O« aufgerissen. Auf dem nächsten Foto schrie sie, und die beiden neben ihr stehenden Mädchen schauten mit verblüfftem Gesichtsausdruck nach oben. In schneller Abfolge folgten die restlichen Bilder. Viele waren unscharf. Lara trank noch einen Schluck Grog und gähnte. Sie musste beim Fotografieren gezittert haben, ohne es zu merken.
»Das ist eine Art Seilzug.« Jos Gesicht war dicht vor dem Monitor, er studierte jedes Detail. »Was befand sich eigentlich über dem Laufsteg?«
»Ein Gerüst, an dem Lampen befestigt waren, so ähnlich wie ein Schnürboden in einem Theater.«
»Stand dort oben jemand? Techniker, die die Scheinwerfer gesteuert haben?«
»Ich glaube, das lief automatisch. Aber sicher bin ich mir nicht.« Lara leerte die Tasse und gähnte erneut. »Es war schwierig zu erkennen, weil man direkt ins Licht schauen musste.«
»Jemand muss diese Bahre herabgelassen haben.« Noch immer starrte Jo auf das Foto mit dem toten Mädchen. Sie lag wie eine Gekreuzigte auf dem Rücken, die Arme im rechten Winkel vom Körper weggestreckt, die Blutrinnsale, die von beiden Händen herabtropften, mitten in der Bewegung erstarrt. Jo beugte sich noch ein bisschen dichter nach vorn. »Was hat sie auf der Stirn?«
»Auf der Stirn?« Laras Zunge ließ sich nur schwer bewegen. »Weiß nich …« Wie viel Rum hatte Jo eigentlich in den Grog getan?
»Da sind dunkle Stellen. Es sieht aus wie zwei schwarze Streifen.«
»Schwazze Streifen?« Lara stellte die leere Tasse auf den Fußboden. Vor ihren Augen flimmerten die Bilder der Nacht.
»Das muss ich mir morgen Vormittag noch einmal vornehmen.« Auch Jo gähnte jetzt. »Das kriegen wir noch schärfer hin, und dann kann man vielleicht erkennen, was es ist. Die meisten Fotos müssen sowieso nachbearbeitet werden. Aber das kann ich morgen für dich machen. Lass uns wieder rübergehen. Es ist schon nach drei. Du bist sicher müde.«
*
»Ich lasse dich vor der Redaktion raus.« Lara bremste und Jo angelte seine Sachen vom Rücksitz.
»Bis gleich.« Jo stieg aus und blickte Laras Mini Cooper nach, der in Richtung Parkhaus davonfuhr. Der gelbe Kleinwagen mit den schwarzen Rallyestreifen leuchtete im Licht der tiefstehenden Morgensonne.
Keiner von beiden sah den Mann, der drei Stockwerke weiter oben mit abwesendem Gesichtsausdruck vom Fenster zurücktrat. Er hatte zugesehen, wie das gelbe Auto vorgefahren und Jo ausgestiegen war, und messerscharf geschlussfolgert, dass die Redakteurin Lara Birkenfeld und der Fotograf Joachim Selbig zusammen zum Dienst kamen. Tom Fränkel, der Redaktionsleiter, beschloss, diese Beobachtung vorerst für sich zu behalten. Wer weiß, wozu man sie später einmal verwenden konnte.
Auf dem Weg zu ihrem Stellplatz ließ Lara den Morgen noch einmal Revue passieren. Als Jo sie mit einer Tasse Kaffee geweckt hatte, war sie völlig desorientiert gewesen. Sie hatte in ihren Klamotten auf einem blauen Sofa gelegen und war mit einer karierten Decke zugedeckt. Es dauerte einige Minuten, bis ihr klar wurde, was passiert sein musste – sie war auf Jos Couch eingeschlafen, und er hatte sie nicht wieder wach bekommen. Der zweite Grog musste ihr das Genick gebrochen haben. Lara lächelte, bis ihr einfiel, was sie gestern Abend erlebt hatte.
Weiße Atemwölkchen ausstoßend, eilte sie zum Redaktionsgebäude. Jos Auto war nicht angesprungen, und so hatte sie ihm angeboten, ihn mitzunehmen. Wie gut, dass niemand gesehen hatte, dass sie gemeinsam gekommen waren. Die Gerüchteküche in der Redaktion würde ihnen sofort eine Affäre andichten.
»Na, du hast wohl den Wecker nicht gehört?« Es klang ein wenig anzüglich. Tom Fränkel stand in der Tür zu seinem Büro und grinste maliziös.
»Entschuldige, Tom. Ich hab tatsächlich verschlafen. Aber ich habe eine Erklärung dafür.«
»Da bin ich aber gespannt!«
»Kam denn noch nichts über den Ticker? Ich war doch gestern Abend zu der Runway-Show von Rootdesign !«
»Ich kann nicht alle naselang den Newsticker beobachten. Ich habe auch noch andere Aufgaben.« Tom war jetzt wieder ernst. Wahrscheinlich ging ihm gerade auf, dass Lara ihm keine Ausrede für ihr Zuspätkommen auftischen wollte, sondern tatsächlich einen handfesten Grund dafür
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