Sündenkreis: Thriller (German Edition)
Trage dich bei jedem Verlassen der Redaktion in die Abwesenheitsliste ein und gib wahrheitsgemäß an, wo du dich aufhältst. Wenn du das nicht tust, kann das arbeitsrechtliche Konsequenzen haben.«
»Welche?« Lara hörte sich selbst wie durch Watte sprechen.
»Das hängt davon ab. Versetzung käme infrage. Oder auch eine Kündigung.«
»Verstehe. War das alles?« In Laras Brustkorb schnürte sich etwas zusammen. Sie würde Tom nicht die Genugtuung gönnen, hier drin zu heulen. Was hatte er eigentlich davon, sie so zu demütigen? »Ich möchte das Schreiben heute noch haben.«
»Aber sicher.« Tom hob das Kinn. Ein paar winzige Sekunden lang sah er verunsichert aus. Dann strafften sich seine Gesichtsmuskeln. »Zuletzt möchte ich dir noch sagen, dass ich es nicht gutheiße, wenn Kollegen Affären miteinander haben. Das schadet der Arbeitsmoral.«
»Wie bitte?«
»Tu doch nicht so, Lara. Neulich früh habe ich zufällig beobachtet, wie Jo aus deinem Auto ausgestiegen ist. Wahrscheinlich denkt ihr, ihr stellt es besonders schlau an, wenn er fünf Minuten vor dir hier ankommt, aber ganz so blöd sind wir dann doch nicht.«
»Ich … es … Ach was!« Lara gab auf. Das, was Tom »zufällig« gesehen hatte, ließ sich nicht leugnen, aber er zog die falschen Schlussfolgerungen. »Ich werde mich dafür nicht rechtfertigen. Mein Privatleben geht dich überhaupt nichts an.«
»Sollte es deinen Job beeinträchtigen, dann schon.« Er nickte, wie um sich selbst zu bestätigen.
In Laras Ohren brauste das Blut. Sie wollte etwas erwidern, aber ihr fiel kein einziger sinnvoller Satz ein.
»Na gut. Das alles hätte jedenfalls nicht sein müssen.«
»Ach ja?« Lara stand auf und drehte sich um, damit Tom ihren Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. Dir werde ich es zeigen, du machtgeiler kleiner Karrierist! Was hatte er davon, sie so zu demütigen? Sie öffnete die Tür und marschierte mit hoch erhobenem Kopf hinaus. Draußen war alles still. Kein Tastenklappern, kein Computersummen, kein Telefongeklingel. Der Redaktionsraum war verwaist. Lara schluckte und suchte in ihrer Tasche nach einem Tempo. Wo steckten die Kollegen? Hatten sie Angst, dass auch sie etwas von Toms Zorn abbekommen würden, nachdem er mit ihr fertig war?
In der Küche klapperte Geschirr. Wahrscheinlich tat Markus Lehmann dort so, als räume er auf. An Christins Arbeitsplatz begann das Telefon zu schrillen, und im selben Moment kam die Kollegin aus der Küche gehastet, um das Gespräch anzunehmen. Im Vorbeilaufen warf sie Lara einen verstohlenen Blick zu. Friedrich folgte ihr nach ein paar Sekunden. Da habt ihr euch also versteckt! Feiges Pack! Lara wusste, dass sie ungerecht war, und schaffte es trotzdem nicht, den brodelnden Zorn zu zügeln. Sie tippte »Abmahnung« in ihren Rechner und begann, ein paar Dokumente zu dem Thema zu lesen.
»Kommst du mit uns essen?« Gert kam aus dem Nebenraum. Mit den herabhängenden Mundwinkeln und den Hängebäckchen glich er einem traurigen Bernhardiner.
»Wo geht ihr denn hin?«
»Nur zum Imbiss.«
»Ich komme mit.« Lara schnappte sich ihre Tasche und wickelte sich den Schal um den Hals. Die frische Luft würde ihr den Kopf freipusten. Hoffentlich versuchten die Kollegen nicht, sie auszufragen.
» Statim eam sequitur quasi bos ductus ad victimam et quasi agnus lasciviens et ignorans quod ad vincula stultus trahatur, donec transfigat sagitta iecur eius velut si avis festinet ad laqueum et nescit quia de periculo animae illius agitur. … Nunc ergo fili audi me et adtende verba oris mei. Ne abstrahatur in viis illius mens tua neque decipiaris semitis eius! «
Stefan Reinmann murmelte den Text vor sich hin, während er mit dem Zeigefinger über den Ausdruck fuhr. Lara wusste, was er da las, hatte sie den Text doch seit gestern Abend wieder und wieder studiert. Sie betrachtete die Butterkekse auf dem großen Teller. Noch einer mehr und sie würde mörderisches Sodbrennen kriegen. Nunc ergo fili audi me et adtende verba oris mei hallte in ihrem Kopf. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihr einfiel, wo sie den Satz schon einmal gehört – besser gesehen – hatte, in ihrem ersten Gesicht zu der Frau, die sich später als »Kirchenleiche« herausstellen sollte: Nina Bernstein. Sie hatte genau diesen Textabschnitt mit ihrem inneren Auge wahrgenommen.
» Multos enim vulneratos deiecit et fortissimi quique interfecti sunt ab ea. Viae inferi domus eius penetrantes interiora mortis. « Stefan Reinmann ließ das Blatt
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