Suendenpakt
rechten Platz sitzt, ist es nicht mehr so wichtig, wenn es der Rest des Körpers nicht tut. Zum ersten Mal, seit ich hier bin, fühlt sich die Zeit nicht wie ein Stein an, den ich von einem Ende des Tages zum nächsten ziehen muss. Sie fühlt sich an, als würde sie von alleine dahinrollen.
Der Tunnel, durch den ich zurück in meine Zelle gehe, endet nach etwa zweihundert Metern an einer Treppe zu meinem Zellenblock. Weil der Vormittag so ungewöhnlich verlaufen ist, brauche ich die Hälfte des Weges, um zu merken, dass der Wachmann, der Louis heißt, heute irgendwie besonders ruhig ist. Warum nur? Meistens ist Louis eine Schwatzbase, will immer nur über Basketball reden und mir über seine Favoriten aus den Achtzigern und Neunzigern erzählen, aber heute Morgen, wo ich Lust zum Reden habe, kriegt er kein Wort raus. Es muss wohl hart sein, als Schließer zu arbeiten.
»Ich muss mal aufs Klo«, sagt Louis. »Ich lass’ dich hier kurz alleine.«
»Mach nur. Ich hab’s nicht eilig.«
Louis befestigt die Fußkette an einem Rohr an der Wand, doch als ich sein Gesicht sehe, während er die Toilette betritt, wird mir auf einmal alles klar. Ich weiß, was passieren wird.
Und schon höre ich kräftige Schritte, die vom anderen Ende des Flurs auf mich zueilen.
Ich versuche, den eineinhalb Meter entfernten Feuermelder zu erreichen, doch so, wie mich Louis ans Rohr gekettet hat, schaffe ich es nicht. Auch am Rohr zu rütteln und es aus der Wand reißen zu wollen, nützt nichts.
Eine Stimme aus einer nahe gelegenen Zelle ruft: »Lauf, Jungspund, lauf!« Aber wie soll ich weglaufen, wenn meine Hände und Füße mit Ketten gefesselt sind? Zu spät. Auch an den Feuerlöscher an der Wand komme ich nicht ran. Die Antwort muss irgendwo in meinem Kopf sein. Irgendwo muss sie sein, und es wäre gut, wenn sie sich mir rasch zeigen würde.
Die Schritte werden lauter, und als ich den Flur entlangblicke, sehe ich, dass man mir einen Bruder geschickt hat. Einen großen Bruder. Er füllt den Flur wie ein U-Bahn-Zug aus, der durch einen Tunnel fährt.
Und jetzt sehe ich auch sein Gesicht - eins, das ich noch nicht kenne - und in seiner Hand etwas Glänzendes.
Mehr als drei Schritte kann ich nicht gehen, aber das reicht bis zur Toilettentür. Dahinter versteckt sich Louis und wartet, bis die Sache vorbei ist und er herauskommen und den Alarmknopf drücken kann.
Ich schlage nicht gegen die Tür wie ein verzweifelter Mensch, der dem Tod ins Auge blickt, sondern klopfe ganz
leise wie jemand, der gerade einen geplanten Mord begangen hat, und flüstere mit fremder Stimme: »Louis, ich bin fertig.«
Anschließend trete ich rasch auf die andere Seite der Tür. Und beginne zu beten.
Mein Mörder ist keine drei Meter mehr entfernt, so dass ich die Angst in seinen Augen erkennen kann. Er soll sehen, dass ich genauso groß bin wie er, und meine nach vorne gerichteten Fäuste zeigen ihm, dass ich nicht kampflos aufgeben werde. Das lässt ihn eine Sekunde lang zögern, genau die Zeit, die ich brauche.
Das Messer nach vorne gerichtet wie ein Speer, kommt er einen weiteren Schritt in meine Richtung und stößt mit dem Ding genau in dem Moment auf mich zu, als die Tür hinter mir aufgeht. Als Louis herauskommt, ducke ich mich.
Der Kerl ist völlig überrascht, so dass ich Zeit habe, aus der Hocke aufzuspringen und ihm meine Fäuste mit aller Kraft direkt unters Kinn zu rammen. Bewusstlos kippt er um und lässt sein Messer zu Boden fallen.
Trotz meiner Fesseln könnte ich nach dem Messer greifen und diesen Schläger, den man auf mich angesetzt hat, umbringen. Aber egal, was einige Leute von mir denken, ich habe noch nie jemanden umgebracht, und ich habe nicht vor, jetzt damit anzufangen.
76
Raiborne
Die Tatsache, dass nichts im forensischen Bericht steht, was die Morde an Michael Walker und Manny Rodriguez miteinander in Verbindung bringt, hilft mir, mich eine Weile von meinen Gedanken an die beiden toten Männer abzulenken. Dann fange ich wieder an durchzudrehen. Ich rufe Vince Meehan an. Vince, der Leiter der Asservatenkammer, gibt mir die Nummer derjenigen Person, die Rodriguez’ Sachen - das silberne Kruzifix, die leere Brieftasche und den eingepackten iPod - abgeholt hat.
Sie gehört einer dreiundzwanzigjährigen Kellnerin namens Moreal Entonces, die mir ein paar Stunden später am Tresen eines schicken kubanischen Restaurants in Nolita die Geschichte von sich und Manny erzählt.
Und diese ist trauriger als die meisten anderen.
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