Sündige Gier
verriegeln konnte.«
Julie konnte sich nicht mehr an die Liftfahrt hinunter zur Lobby erinnern, aber sie erinnerte sich sehr wohl an die chaotischen Minuten, nachdem die Türen aufgeglitten waren und sich den Hotelgästen vor dem Aufzug jenes grauenhafte Bild geboten hatte. Sie, über Paul gebeugt, eine riesige Blutlache auf dem Marmorboden, die drei Mitfahrenden unter Schock. Die entsetzliche Szene hatte ein Chaos ausgelöst. Der Mann, der dafür verantwortlich war, hätte währenddessen unbemerkt das Hotel verlassen können.
Unbemerkt von den Zeugen, aber nicht von den Überwachungskameras .
»Die Zeitspanne, kurz bevor und nachdem der Lift in der Lobby eintraf und das Chaos losbrach, nehmen wir uns besonders genau vor. Vielleicht hat die Kamera jemanden beim Verlassen des Hotels erfasst, der weder als Angestellter, Gast, Freund eines Gastes oder Teilnehmer an einer Konferenz oder eines Meetings identifiziert werden kann. Jemand, der weder seinen Wagen vorfahren ließ noch ein Taxi angefordert hatte.«
»Das sind bestimmt Hunderte von Menschen«, hatte sie erkannt. »Wie lange wird das dauern?«
Die beiden Detectives hatten zugegeben, dass es eine arbeitsintensive Aufgabe war.
»Sonst gibt es nichts?«
Sie hatten ihr erklärt, dass man weder die Maske noch die Brille oder den Jogginganzug gefunden hatte. Zwar hatte man Sockenfasern auf dem Teppichboden im Korridor entdeckt, aber die passten zu einer weit verbreiteten Marke, die praktisch in jedem Kaufhaus mit einer Abteilung für Männerkleidung verkauft wurde. Der Täter hatte nichts berührt, nirgendwo ein Haar hinterlassen, soweit sie feststellen konnten, und selbst falls sie irgendwo seine DANN gesichert hatten, mussten sie ihn erst festnehmen, bevor sie seine DANN mit den gefundenen Proben abgleichen und ihm dadurch nachweisen konnten, dass er am Tatort gewesen war. »Autos auf dem Parkdeck?«
»Wir überprüfen jedes einzelne«, hatte Sanford erklärt. »Am Ausgang hängt eine Kamera. In den zehn Minuten nach dem Überfall hat kein Auto die Garage verlassen, danach wurde die Ausfahrt versperrt. Darum gehen wir davon aus, dass er zu Fuß entkommen ist. Wahrscheinlich hat er seinen Wagen ein paar Blocks vom Hotel entfernt geparkt.«
Der Jetlag hatte Julies Pessimismus und ihre Niedergeschlagenheit noch verstärkt. Ganz spontan hatte sie beschlossen, alle Vorsicht fahren zu lassen. »Aber Sie haben das Video aus der Eingangshalle, das damals aufgezeichnet wurde?«
»Wir haben es schon mehrmals durchgesehen«, hatte Sanford erwidert.
»Taucht Creighton Wheeler darauf auf?«
»Nein.«
Kimballs Antwort kam sofort, woraus Julie schloss, dass sie nach ihm Ausschau gehalten hatten.
Daraufhin hatte sie den beiden für ihre Bemühungen gedankt und war gegangen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sich vor dem Gebäude eine Horde von Reportern auf sie stürzen würde. »Ich habe nichts weiter zu sagen«, hatte sie erklärt, während sie sich einen Weg durch das Gedränge zu bahnen versuchte.
»Gibt es eine neue Spur, Ms Rutledge?«
»Das müssen Sie die Polizisten selbst fragen.«
»Gibt es inzwischen eine Vermutung, wer Mr Wheeler erschossen hat?«
»Nicht soweit ich weiß.«
»Glauben Sie, dass der Räuber ein Einzeltäter war?« Diese Frage ließ sie innehalten, denn das hatte sie noch niemand gefragt. Erst jetzt, als sie die Szene auf ihrem Bildschirm wieder sah, wurde ihr bewusst, mit welcher Überzeugung sie sich über das Mikrofon gebeugt und erklärt hatte: »Nein, und ich glaube auch nicht, dass es ein Raubüberfall war.«
Damit endete die Einblendung, und die Nachrichtenmoderatorin erschien wieder auf dem Bildschirm. »Unser Reporter Chris de la Cruz bat Ms Rutledge, ihre Vermutung zu erläutern, aber das lehnte Ms Rutledge ab.«
Julie schaltete erst den Fernseher und dann das Licht aus.
Wahrscheinlich würden ihr die Detectives nach dieser Erklärung die Hölle heißmachen, doch das war ihr egal. Seit der Tat waren fast zwei Wochen vergangen. Inzwischen bearbeiteten die beiden wahrscheinlich nicht mehr nur den Mord an Paul, sondern ein Dutzend weitere Taten. Jedes Mal, wenn sie sich mit den Detectives traf oder mit ihnen telefonierte, wurde ihr versichert, wie entschlossen man sei, den Fall zu lösen und den Täter vor Gericht zu bringen, aber so naiv war sie nicht. Bald würde dieser Fall zugunsten eines neueren in den Hintergrund treten müssen.
Vielleicht konnte sie mit dem, was sie zu den Reportern gesagt hatte, die Sache ein, zwei
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