Suendiger Hauch
ihren Studien zurückfinden.
Sie stand am Fenster und starrte auf den Bach. Ihr Blick folgte einem kleinen Stück Holz, das von der Strömung ein Stück hinabgetragen wurde, bevor es schließlich im Wald verschwand. Sie vermisste die Ruhe, die ihr die Lektüre der Bücher in dem kleinen Haus gegeben hatte, und das erhebende Gefühl, jemandem helfen zu können, der sie brauchte. Sie konnte nicht ihr ganzes Leben damit zubringen, eine Nadel in einem Stickwerk zu versenken oder in dem Versuch, dem Cembalo ein paar angenehme Töne zu entlocken.
Und sosehr ihr Michael am Herzen lag, selbst die Anwesenheit des Kindes im Schloss würde nicht ausreichen, um sie von ihrem Lebenswerk abzuhalten. Sie brauchte ihre Arbeit, ebenso wie der Marquis die seine brauchte. Kathryn schwor sich, wie sie es seit dem Tode ihrer Eltern schon oft getan hatte, alles daranzusetzen, damit sie ihr Ziel schließlich erreichen würde.
18
Lucien lehnte sich gegen das Geländer am oberen Ende der gewundenen Steintreppe, die hinab in die Eingangshalle führte. Unterhalb von ihm stand Kathryn mit dem kleinen, blonden Jungen. Michael Bartholomew. Das Kind hatte sich an ihre Hand geklammert und hielt sie so fest, als fürchtete er, dass er für immer in den Tiefen des Schlosses verloren gehen würde, wenn er sie losließ.
Michael war am Abend zuvor mit der Kutsche angekommen, in Begleitung eines Bediensteten aus Luciens Londoner Stadthaus. Nathaniel hatte die dafür erforderlichen Vorkehrungen getroffen. Es hatte lediglich ein Minimum an Anstrengung erfordert, eine üppige Menge an Goldmünzen, um genau zu sein, und der Junge war aus dem St. Bart’s entlassen und in seine Obhut gegeben worden.
Lucien sah ihn an, jenen kleinen, dünnen, flachsblonden Jungen, dessen große blaue Augen sich beim Anblick des glänzenden Marmors und der üppigen goldenen Verzierungen überall im Schloss vor Erstaunen geweitet hatten. Kathryn hatte gesagt, dass der Junge kaum je aus St. Bart’s herausgekommen war. Nur die Wärterinnen hatten ihn von Zeit zu Zeit mitgenommen, wenn sie irgendwelche Besorgungen machten. Es war offensichtlich, dass er praktisch noch nichts von der Welt gesehen hatte.
Er deutete auf die bemalte Decke des Foyers. »Bilder«, rief er. »Ich hab noch nie Bilder an der Decke gesehen. Was glaubst du, wie ist der, der die gemalt hat, da nach oben gekommen?«
Kathryn lachte, und Lucien spürte, wie er sich ein Lächeln verkneifen musste. Während seine Frau dem Jungen erklärte, dass man extra Kunsthandwerker aus Italien ins Schloss geholt hatte, die vor hundert Jahren die Bilder gemalt hätten, ging Lucien die Treppe zu ihnen hinab.
Sie drehten sich zu ihm um, als sie ihn kommen hörten. »Guten Morgen, Michael.« Obwohl Lucien dem Jungen am Abend zuvor bereits begegnet war, blieb dieser stumm und klammerte sich an Kathryns Hand, während er seine Umgebung betrachtete, als sei er soeben auf dem Mond gelandet.
»Morgen, Sir«, sagte er und starrte Lucien fast mit demselben erstaunten Gesichtsausdruck an wie die bemalten Decken.
»Du musst den Marquis mit Euer Lordschaft ansprechen«, erklärte ihm Kathryn. »Du musst sagen Guten Tag, Euer Lordschaft oder Guten Tag, Mylord.«
Er richtete sich auf. »Tag, Lordschaft.«
»Ich hoffe, du hast gut geschlafen, Michael«, gab Lucien lächelnd zurück.
Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen, in dem nun etwas mehr Selbstbewusstsein lag. »Ich wär fast ertrunken, Lordschaft, in all den Federn. Aber es war dann nett, nachdem ich mich dran gewöhnt hab.«
Lucien musste ein Lachen unterdrücken. »Habt ihr beiden schon gefrühstückt? Ich bin sicher, der Koch hat sich selbst übertroffen, nun, da wir einen neuen Gast im Hause haben.«
Kathryn drückte Michaels Hand, bevor sie zu Lucien aufsah und ihm ein so dankbares Lächeln schenkte, dass seine
Brust sich zusammenzog. »In der Tat wollten wir gerade in den Frühstückssalon gehen. Vielleicht möchtest du uns begleiten?«
»Ja, das würde ich sehr gerne tun.« Er ließ Kathryn vorausgehen, doch bevor sie sich in Bewegung setzen konnte, ließ Michael ihre Hand los und kam zu ihm herüber. Vorsichtig streckte der Junge seine kleine Hand aus, um das dunkelrote Samtband am Saum seines knielangen Morgenmantels zu berühren.
»Woraus is’ das? Ich hab noch nie so was Weiches angefasst.«
Lucien sah auf ihn hinab, auf seine Kleidung, die aus derben, braunen Kniehosen und einem schlichten, weißen Hemd bestand, die Nathaniel Whitley für ihn besorgt
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