Suendiger Hauch
erneut unter seinem Morgenrock. Lucien wandte sich um, ging an den Regalen entlang, bis er das gesuchte Buch gefunden hatte, und schickte sich schließlich an, die Bibliothek zu verlassen.
»Vielleicht sind diese Bücher auch die Ursache für Ihre schlechten Träume, Miss Gray«
Sie lächelte dünn. »Auf gewisse Weise sind sie das sogar, doch gleichzeitig sind sie auch meine Rettung.«
Lucien blieb ihr eine Antwort schuldig. Sie war ein merkwürdiges kleines Geschöpf, zu intelligent, um dem modernen Geschmack zu entsprechen, und dennoch seltsam verlockend. Er ärgerte sich darüber, dass er während der wenigen Tage, die sie hier auf Castle Running war, immer größeres Verlangen nach ihr verspürt hatte. Schließlich war er mit einer anderen verlobt, was es nicht zu vergessen galt.
Er wünschte sich nur, Allison Hartman würde ihn ebenso leicht in Erregung versetzen, wie ein einziger Blick auf die Fesseln von Kathryn Gray es vermochte.
3
Lieber Gott, wie sie den Gedanken hasste, Castle Running verlassen zu müssen. Kathryns Finger glitten über die Tagesdecke aus tiefblauer Seide und die schweren Samtvorhänge, die das Himmelbett umgaben, in dem sie geschlafen hatte.
Sie würde dieses angenehme, privilegierte Leben, das sie
einst als selbstverständlich betrachtet hatte, vermissen. Sie würde Lady Beckfords Freundschaft vermissen, ja selbst ihre zuweilen recht anstrengenden Gespräche mit dem attraktiven Besitzer des Schlosses. Doch sie würde auch ohne sie überleben. Solange sie ihre Freiheit hatte, würde sie nahezu alles überleben können.
Kathryn zog ein mit Stickereien verziertes Kästchen unter ihrem üppigen Kissen hervor. Sie würde es verwenden, um darin die Essensvorräte aufzubewahren, die sie während der vergangenen drei Tagen gehortet hatte. Außerdem würde sie drei von Lady Beckfords geliehenen Kleidern, die Ziegenlederschuhe und eines der Nachthemden mitnehmen müssen, auch wenn sie das nur ungern tat.
Sie wünschte, sie hätte ein wenig Geld, um für die Kleider bezahlen zu können, oder zumindest ein paar Münzen, die sie auf ihrer Reise hätte gut gebrauchen können, doch sie wollte keinesfalls den ersten Menschen etwas stehlen, die seit nahezu einem Jahr freundlich zu ihr gewesen waren. Sie würde irgendwo entlang der Straße Arbeit finden, hoffte sie, und dies würde ausreichen, um ihre weitere Reise zu finanzieren.
Sie hatte beschlossen, sich auf den Weg nach Cornwall zu machen, eine ländliche Gegend, in der sie hoffte, irgendeine Arbeit zu finden, sodass sie für sich selbst sorgen und unerkannt bleiben könnte. Sobald sie sicher sein konnte, dass die anderen schliefen, würde sie später am Abend das Schloss verlassen. Sie hatte Kopfschmerzen vorgeschützt und sich das Abendessen auf dem Zimmer servieren lassen, da sie Zeit benötigte, um Mut zu schöpfen, ihre Vorbereitungen für die Abreise zu treffen und die Unausweichlichkeit ihres Handelns zu akzeptieren.
Schweren Herzens ging sie zu dem beige- und goldfarbenen, verzierten Kleiderschrank hinüber, der sich am anderen Ende des Schlafzimmers befand, und zog das einfachste der
geliehenen Kleider an, ein schweres dunkelgrünes Wollkleid, das mit champagnerfarbener Spitze verziert war, als ein Klopfen plötzlich die Stille im Zimmer unterbrach.
Reeves, der langnasige Butler, stand im Türrahmen. »Lord Litchfield wünscht Sie in seinem Arbeitszimmer zu sprechen.«
Ein Anflug von Angst begann in ihr aufzukeimen. »Es ist schon ziemlich spät. Sind Sie sicher, dass er -«
»Er wünscht Sie zu sprechen. Das ist alles, was er sagte.«
Sie nickte, während sie versuchte, ihre Angst niederzukämpfen.
»Sagen Sie ihm, ich werde in einer Minute unten sein.«
Der Butler rührte sich nicht von der Stelle. »Er sagte, ich solle Sie nach unten begleiten.«
Sie erstarrte vor Schreck. In der Haltung des Butlers lag eine Unnachgiebigkeit, die Schlimmes befürchten ließ. Gütiger Himmel, Litchfields Bote wurde doch frühestens am nächsten Tag zurückerwartet. Vielleicht war etwas anderes geschehen, vielleicht wollte er einfach nur für den nächsten Tag Pläne schmieden. Sie hoffte, nein, betete geradezu inbrünstig, dass es so war.
Bebend und mit klopfendem Herzen ging sie die Treppe hinunter. Ihre Handflächen waren schweißnass. Als sie das Arbeitszimmer betrat, sah sie den Marquis, der mit dem Rücken zu ihr breitbeinig am Fenster stand. Obwohl sie hoffte, dass sie sich irrte, entging ihr die strenge Haltung seiner Schultern
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