Sündiges Abenteuer: Roman (German Edition)
war überzeugt, dass sie sich die ganze Nacht gefürchtet hatte, während sie allein auf den Straßen unterwegs war, die sie nicht kannte und ständig fürchten musste, dass jemand auf sie schoss. Er musste auch bedenken, dass er das erste Mal mit ihr in aller Ruhe reden konnte, seit sie die wahre Identität des Schnitters enthüllt hatte. Als sie ihn das erste Mal in dem Kostüm gesehen hatte, war sie wütend geworden, und er hatte in aller Eile die Liste mit den Informanten niedergekritzelt. Sobald er das erledigt hatte, war er bewusstlos geworden.
Er schuldete ihr eine Erklärung, daran konnte kein Zweifel bestehen. Aber sie war eine vernünftige Frau. Sobald er ihr erklärte, warum er tat, was er tun musste – warum er der Schnitter wurde und vor ihr Geheimnisse hatte –, würde sie es verstehen.
Während er Old Nelson abrubbelte, meinte er daher: »Ich weiß, diese Nacht muss für dich sehr anstrengend gewesen sein.«
»Ich hatte keine Probleme«, erwiderte sie. »Du bist nicht der Einzige, der in der Lage ist, ein Pferd zu reiten. Und du bist nicht der Einzige, der einen Grund hat, die Herrschaft der de Guignards zu bekämpfen.« Etwas klatschte gegen die Holzwand zwischen den Boxen, die unter dem Schlag erzitterte.
Etwa das Oberteil vom Schnitterkostüm? »Ich habe nicht gemeint, dass du Probleme hättest oder nicht über denselben Gerechtigkeitssinn verfügst wie andere. Ich meinte, dass du …« Er verstummte.
Wenn sie das Oberteil vom Kostüm ausgezogen hatte, was trug sie dann in diesem Augenblick?
»Dass ich was?«
Michael riss sich von der Vorstellung ihres halbnackten Körpers los. Er nahm die Kardätsche und begann, Old Nelsons Hals abzubürsten. »Es wäre vielleicht eine gute Idee, wenn ich dir erzähle, warum ich der Schnitter geworden bin.«
Sie antwortete nicht.
Er hörte Wasser plätschern.
Wusch sie sich das Gesicht und den Körper? War sie von der Taille aufwärts nackt? Oder war sie vollständig nackt? Liefen kleine Wasserbäche an ihrem Hals und ihrer Brust hinab und sammelten sich an ihren Brustspitzen, ehe sie ins Stroh tropften?
Old Nelson drehte den Kopf und blickte ihn aus dunklen, wissenden Augen an. Erst da ging ihm auf, dass seine Hand in der Luft verharrte.
»Ich hör dir zu!« Sie klang ernsthaft verärgert.
Michael warf dem Pferd einen verbissenen Blick zu. Er legte seinen Schal ab, zog den Mantel aus und warf ihn über die Trennwand. »Mir wird nur gerade zu warm.« Er machte sich wieder an die Arbeit. »Ich habe es aus Rache getan.«
»Redest du von Rickie? Du hast das aus Rache getan für das, was er dir angetan hat?«
»Ich tat es aus Rache für das, was Rickie uns allen angetan hat.« Michael hatte bisher niemandem von den genauen Umständen seiner Gefangenschaft erzählt. Er wollte auf keinen Fall das Mitleid in ihren Augen sehen. Aber Emma konnte ihn nicht sehen, und er konnte sie nicht sehen. Sie war so wütend auf ihn, dass er bezweifelte, ob sie zu einem anderen Gefühl als Verzweiflung fähig war.
Mit Verzweiflung konnte er umgehen.
Er sprach weiter. »Zwei Jahre sind eine lange Zeit. Besonders dann, wenn man sie allein in vollständiger Dunkelheit verbringt. Wenn man nichts anderes tut, als nachzudenken, zu schwitzen und Angst zu haben.«
»Das klingt schrecklich.« Das Stroh raschelte, als sie sich auf der anderen Seite der Wand bewegte. Sie zog sich aus, zog sich an …
»Ja. Weißt du, wie es ist, mit jemandem Freundschaft zu schließen, den man nie gesehen hat? Der nicht mehr ist als eine Stimme in der Dunkelheit? Du kennst diesen Mann, weil er denselben Haferschleim isst wie du, weil er dieselben Schmerzen erleidet wie du und weil er dieselben Tränen weint, die du auch weinst.« Der Rhythmus, in dem er Old Nelson striegelte, beruhigte den Wallach, und in der Ruhe seines Pferds fand auch Michael Trost. Die Erinnerungen übermannten ihn schier, doch er konnte mit jedem Striegelstrich besser darüber sprechen. »Dann weinte er nicht länger. Sprach nicht mehr. Du weißt, er lebt noch, denn du kannst hören, wie er atmet. Du hörst die Wachen, die ihn verspotten. Sie ziehen ihn aus seiner Zelle und bringen ihn zur Folter. Aber sein Lebenswille ist erloschen. Schließlich ziehen sie eines Tages seinen Leichnam aus der Zelle, stecken ihn in einen Sack und tragen ihn weg. Du hast ihn nie gesehen, aber du hast einen Freund verloren.«
»Ach, Michael.« Mitleid. Er hörte ihr Mitleid.
Das wollte er nicht, aber nachdem er einmal angefangen hatte,
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