Sündiges Abenteuer: Roman (German Edition)
in einem fremden Land und ohne eine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Nicht einmal das Lebensnotwendige war ihr geblieben. Dafür hatte eine zornige und zutiefst gedemütigte Lady Lettice gesorgt. Sie hatte Emma nicht einmal erlaubt, ihren Mantel zu holen. Ihre wenigen Habseligkeiten waren noch im Hotel, das Meilen von hier entfernt lag. Sie hatte seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen. Es war Neumond, und die Sterne benetzten den Himmel nur mit wenig Licht. Dichte Wälder und große Berggipfel ragten um das Ch â teau auf. Und ihre dünnen Schuhe waren für lange Gewaltmärsche nicht geschaffen.
Aber sie hatte keine Wahl. Sie konnte entweder losgehen oder sich hinsetzen und sterben. Lady Lettice hatte alles Mögliche getan – hatte sie geschlagen, ausgeschimpft und sie gedemütigt. Doch wie elend ihr Leben in diesem Moment auch erscheinen mochte, wie unterdrückt und hoffnungslos sie sich fühlte, jetzt durfte sie nicht aufgeben. Noch nicht.
Daher stand sie unentschlossen vor dem Château und schaute nach links und rechts. Sie versuchte sich zu erinnern, auf welchem Weg sie gekommen waren und wie sie zurück zum Hotel und dann nach Tonagra gelangen konnte, wo sie vielleicht Arbeit und einen Unterschlupf fand. Aber die Kutsche, die sie hergebracht hatte, war eingetroffen, als das Sonnenlicht des frühen Abends noch durch die Bäume schien. Da hatte alles so anders ausgesehen. Sie konnte sich eine Wegstrecke einprägen, wenn sie genug Zeit dazu hatte, doch vor wenigen Stunden hatte sie dafür gar keinen Anlass gesehen. Sie schloss die Augen und stellte sich den Weg in Gedanken vor. Sie waren von links gekommen; ja, sie war jetzt sicher, sie musste sich nach links wenden. Sie ging los.
Hinter ihr verschwand das Ch â teau mit seinen Lichtern und der Musik in der Dunkelheit. Die Straße wand sich einen Gebirgskamm entlang durch den dunkelsten Teil des Walds, und selbst nachdem ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, sah sie nichts außer riesigen Bäumen, die den Ausblick auf den Nachthimmel versperrten. Zwischen den Pinienstämmen hörte sie das Rascheln der Nachttiere. Einmal schoss ein schwarzer Schatten auf sie zu. Sie schnappte nach Luft und duckte sich. Die Eule heulte und flog weiter.
Im Hochgebirge fiel die Temperatur nachts schnell, sie steckte ihre Hände in die Achselhöhlen und versuchte vergebens, sie warm zu halten. Als sie schon umkehren wollte, führte die Straße plötzlich steil nach unten, und sie erinnerte sich noch sehr gut daran, wie steil der Aufstieg zum Ch â teau gewesen war. Also war sie in der richtigen Richtung unterwegs.
Sie ging weiter, hungrig, erschöpft und halb erfroren. Die Straße wurde unwegsamer. Sie tröstete sich damit, dass die Fahrspur tiefer wurde, weil die Kutschenräder sie tiefer ins Erdreich gedrückt hatten und nicht, weil das Wasser an den Berghängen im Frühling während der Schneeschmelze sie freigespült hatte – was im Übrigen schon Monate her sein musste. Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass Kutschen niemals so eine steile Steigung bezwingen konnten und genauso wenig zwischen den Bäumen passieren konnten, die immer näher zu rücken schienen und mit ihren blättrigen Fingern nach ihr griffen.
Sie blieb stehen. Rieb mit beiden Händen über die Stirn.
Es war so dunkel. Es war so abschüssig. Ihr war kalt. Und sie hatte Hunger. Sie wollte sich einfach nur noch hinlegen und einschlafen.
Direkt vor sich hörte sie ein tiefes, gutturales Knurren.
Sie blieb wieder stehen.
Ein Paar helle Augen schimmerten im Dickicht jenseits der Straße.
Sie machte einen Schritt zurück.
Ein Geschöpf schlich aus dem Wald und blieb direkt vor ihr stehen. Das Knurren wurde lauter. Feindseliger.
Die kleinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf.
Der Wolf schnellte vor.
Sie schrie. Drehte sich um und rannte los. Hinter sich konnte sie den Wolf hecheln hören. Ihr Fuß verfing sich in der tiefen Furche. Sie stolperte, fiel und rappelte sich wieder auf, kraxelte den Weg auf allen vieren hinauf und hoffte entgegen aller Wahrscheinlichkeit, dass jemand sie hörte und ihr zur Hilfe kam. Sie schaute nach oben zum Berggipfel. Und dann sah sie ihre Rettung. Die Gestalt eines Mannes löste sich aus dem Nebel, und die Sterne verblassten. Mit letzter Hoffnung und Kraft rannte sie auf ihn zu … und erkannte entsetzt, dass es sich nicht um einen lebenden Mann handelte.
Seine Haut war kalkweiß. Die Kleidung war weiß und zerfetzt. Das flatternde
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