Sündiges Abenteuer: Roman (German Edition)
war doch viel zu schnell vorbei. Emma führte ihn zum Vorzimmer der Löwin. Lüftungsschlitze oben und unten in der Tür sorgten in den heißen Sommermonaten für einen kühlen Luftzug. Aus dem Innern hörten sie ein sich ständig wiederholendes, kratzendes Geräusch.
Sie wechselten verwirrte Blicke.
Durant hob die Hand und wollte anklopfen. Im selben Moment hörten sie einen Knall, einen schmerzerfüllten Schrei und dann Lady Lettices Stimme, die brüllte: »Schafft mir dieses dreckige Ungeheuer raus, ehe es noch mehr Schaden anrichtet!«
11
Ein zweiter Schrei durchschnitt die Luft, und vor Michaels Augen verwandelte Emma sich von einer furchtsamen, anständigen, jungen Engländerin in eine Amazone mit stahlharten Augen. Sie drehte den Türknauf und betrat die luxuriöse Zimmerflucht.
Dort saß in dem Wohnzimmer ein Junge, der kaum älter als sieben sein konnte, auf einem mit Ruß verdreckten Laken vor dem Kamin auf dem Boden und wand sich vor Schmerzen. Er hielt seinen Arm fest umklammert.
Lady Lettice trug ihr Nachthemd nebst passender Nachthaube und hatte sich in einen weißen Samtmorgenrock gehüllt, der jetzt mit schwarzen Flecken übersät war. Sie sprang auf und ab und schrie den Jungen und den Schornsteinfeger an, der seinerseits lautstark den Jungen schalt.
Die Zimmermädchen drängten sich in der Tür zum Schlafzimmer und beobachteten mit dunklen, weit aufgerissenen Augen das Geschehen. Sie plapperten auf moricadisch durcheinander.
Emma trat in die Mitte dieses Chaos, schob den Schornsteinfeger beiseite und zog ihre Handschuhe aus, die sie einfach auf ein Tischchen warf. »Holt mir meine Medizintasche«, befahl sie Lady Lettice.
»Ich soll Euch Eure Medizintasche holen? Welche Medizintasche überhaupt? Nichts in diesem Hotelzimmer gehört Euch. Nichts!« Lady Lettice kreischte so laut und hoch, dass Michael vermutete, die Hunde heulten deswegen noch in einigen Meilen Entfernung auf.
Emma kniete sich hin. Ihr Knie lag in dem pudrigen schwarzen Ruß, doch das kümmerte sie nicht. Sie umfasste die Schultern des Jungen und sprach leise auf ihn ein. Irgendwie schaffte sie es, dass er seinen Blick auf sie richtete, und sobald sie sich seiner Aufmerksamkeit sicher sein konnte, nahm sie seinen Unterarm in beide Hände. Behutsam ließ sie die Finger über die Haut gleiten. Sie schüttelte den Kopf und murmelte: »Gebrochen.«
Michael konnte den Blick nicht von ihr wenden. Woher wusste sie das? Wann hatte sie das gelernt? Er wandte sich an Lady Lettice, weil er darauf bestehen wollte, dass sie endlich Emmas Medizintasche herausrückte.
Ehe er sich bewegen konnte, sprang Emma wieder auf und stürzte sich wie ein Zankteufel auf die Frau. »Gebt mir meine Medizintasche. Sofort.«
Lady Lettices Kinn und Busen bebten vor Entrüstung. »Das werde ich nicht tun. Ihr habt mich bis auf die Knochen blamiert. Dank Euch bin ich eine Lachnummer.«
Die Worte strömten aus Emmas Mund wie Wasser aus einem gebrochenen Damm. »Lady Lettice, Ihr braucht keine Unterstützung, um eine Lachnummer zu sein. Ihr seid eine ältere Frau, die um die Gunst junger Männer buhlt. Ihr habt keine Moral, und es fehlt Euch gänzlich an Vornehmheit. Die Gesellschaft lacht über Euch, weil Ihr es verdient, dass man über Euch lacht. Also, Madam, seid so gut und gebt mir die Tasche. Dann lasse ich Euch Moricadia verlassen, ohne jedem von Euren verdorbenen Jugendsünden zu erzählen.«
Lady Lettice wich zurück. Sie hob eine Hand und wollte nach Emma ausholen.
Michael fing ihren Arm in der Luft ab. »Nein.« Ein einfaches Wort, das er entschlossen aussprach.
Lady Lettice blickte erst ihn an, dann schaute sie in Emmas leuchtende aquamarinblaue Augen. Sie sank zusammen. »Eure Medizintasche? Ich habe sie verloren. Weggegeben. Ich habe sie in den Müll drunten auf der Straße dieses lausigen, stinkenden Orts geworfen.«
Emma umrundete sie, schob sich an den Mädchen vorbei und betrat das Schlafgemach.
Michael hielt Lady Lettices Handgelenk weiter umfasst. Sie richtete ihren flehenden Blick auf ihn. »Ihr müsst das verstehen! Ich war gut zu ihr, doch sie ist nur eine undankbare Schlampe, die mich hintergangen hat. Hinter meinem Rücken hat sie mit den Gentlemen geschäkert, die unter anderen Umständen mich zur Frau gewollt hätten. Es ist ihre Schuld, wenn ich nicht respektiert werde.«
Emma kam wieder aus dem Schlafgemach. Sie hielt eine Reisetasche mit beiden Händen umfasst.
Offenbar war Lady Lettice inzwischen selbst davon
Weitere Kostenlose Bücher