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Süß ist die Angst

Süß ist die Angst

Titel: Süß ist die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Clare
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hatte jede Minute genossen, hatte den Schweiß, das Brennen der Lungen und die Anstrengung mit allen Sinnen ausgekostet. Sechs Jahre lang hatte er keine frische Luft geatmet, und der Duft der Bäume, die Freiheit der offenen Landschaft und das tiefe Schweigen der Berge waren ein Geschenk, von dem er nicht genug bekommen konnte.
    Und eine kurze Zeit lang war er gezwungen gewesen, über seine gegenwärtige Lage nachzudenken, anstatt über das Desaster seines und Megans Lebens … und über die Dinge, die er Sophie angetan hatte.
    Er hatte seine Schneeschuhe am Stadtrand ausgezogen und in eine Mülltonne geworfen. Dann war er im Einkaufszentrum in den Waschraum geschlüpft, hatte sich den Bart abrasiert und das lange Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Als er das Pioneer Inn betreten hatte, sah er aus wie ein ganz normaler Hippie aus den Bergen.
    Deswegen hatte er Nederland gewählt. Niemand fiel auf in einem Ort, in dem das jährliche Hauptereignis ein Festival mit dem Titel »Frozen Dead Guy Days« war – ein Fest zu Ehren der Entscheidung eines Bürgers, seinen verstorbenen Großvater auf Trockeneis im Werkzeugschuppen aufzubewahren.
    »Hier, bitte schön.« Die Kellnerin stellte sein Frühstück auf den Tisch. »Was möchten Sie zu den Kartoffeln? Ketchup? Scharfe Sauce?«
    Es kostete ihn enorme Zurückhaltung, sich nicht mit beiden Händen den Mund vollzustopfen.
    »Scharf, bitte. Danke.«
    Sie nahm zwei Flaschen vom Nachbartisch und stellte sie ihm hin.
    »Bedienen Sie sich. Ich komme wieder und bringe frischen Kaffee.«
    Er betrachtete die Flaschen, und weil er sich nicht entscheiden konnte, schüttelte er beide und gab etwas auf Kartoffeln und Eier. Dann packte er die Gabel und legte los. Und diesmal stöhnte er tatsächlich vor Wohlbehagen.
    »Gut, nicht wahr?« Die Kellnerin, die einen Tisch weiter Bestellungen entgegennahm, lächelte.
    Er nickte, bemüht, nicht allzu ausgehungert zu wirken.
    Er hatte ungefähr die Hälfte der Riesenportion vertilgt, als etwas im Radio seine Aufmerksamkeit weckte.
    »… Reporterin, die gestern als Geisel genommen wurde, wurde früh am Morgen oberhalb Black Hawk gefunden und ins University Hospital gebracht. Sophie Alton vom
Denver Independent
hatte Marc Hunter, einen verurteilten Mörder, interviewt, als dieser einen Wachmann überwältigte, sich seiner Waffe bemächtigte und mit Alton als Schutzschild aus dem Gefängnis floh.«
    Marc blieb der Bissen im Hals stecken.
    Der Radiosprecher fuhr fort.
    »Laut Polizeiberichten rief Hunter selbst den Notruf der Polizei an, um ihr mitzuteilen, wo sie Alton finden würde. Einzelheiten, die den Zustand der Frau betreffen, sind nicht bekannt, aber es heißt, sie sei in guter Verfassung.«
    Und wenigstens in Sicherheit.
    Was nicht dein Verdienst ist, du Blödmann.
    »Die Bewohner der Bergregion werden gebeten, die Augen offen zu halten und jede verdächtige Person zu melden. Hunter ist eins dreiundneunzig groß, hat schulterlanges, braunes Haar, einen Bart und grüne Augen. Er ist bewaffnet und gilt als extrem gefährlich.«
    Verdammter Mist.
    Er zwang sich, weiterzuessen, langsam den Teller zu leeren, während er sowohl sein Essen als auch die Kellnerin und die anderen Gäste im Auge behielt.
    »Ich hoffe, die kriegen den Mistkerl«, tönte der Koch aus der Küche. »Hab das Bild gestern im Fernsehen gesehen. Sieht echt gemein aus, der Typ. Hat der Kleinen bestimmt was angetan!«
    Ja, das hatte er.
    Bitte nicht. Ich wollte doch nur Ihrer Schwester helfen.
Sophies Flehen hallte in seinem Bewusstsein wider und verwandelte das eben noch so köstliche Essen zu Blei in seinem Magen. Er konnte den Gedanken an das Entsetzen in ihrem Gesicht nicht abschütteln, nicht verdrängen, nicht ignorieren. Nun, da er draußen und es vorbei war, konnte er kaum noch fassen, dass er sie tatsächlich als Geisel genommen hatte. Aber das hatte er.
    Und sie war verdammt tapfer gewesen. Hatte sich schon im Flur gewehrt, gegen ihn, einen bewaffneten Mörder, der fast doppelt so schwer wie sie war. Sie hatte versucht zu entkommen, hatte beinahe ihr Leben verloren, weil sie sich retten wollte, und obwohl sie auf ganzer Linie gescheitert war, hatte ihre scharfe Zunge keineswegs darunter gelitten.
    Ach, Tiere tötest du also auch.
    Es war ihm unglaublich schwergefallen, sie dort zurückzulassen, allein, erschöpft und unterkühlt. Gerne hätte er ihr alles erzählt und sie um Vergebung gebeten, aber es hätte keinen Sinn gehabt. Zumal nichts, was er

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