Sueß, naiv und intrigant
nähergekommen war – kein männliches Wesen würde das vergessen. »Ich glaube, ich war schon mal in einem Traum hier«, witzelte er.
»Schon möglich.« Tinsley lehnte sich an eines der Waschbecken und registrierte, dass Julian eine Muschelkette trug. Eine in der Art, die einem die Freundin von einem Ferienaufenthalt in Nantucket oder Fire Island mitbrachte. Sie kniff die Augen zusammen. Natürlich hoffte sie, dass Julian schon mal eine Freundin gehabt hatte – sie wollte ja nicht bei null anfangen mit ihm -, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie Erinnerungsstücke an die andere an ihm herumbaumeln sehen wollte.
»Nein, es kann doch kein Traum gewesen sein.« Er sah Tinsley über die Schulter hinweg an, und der Blick seiner dunklen Augen forderte sie auf, zu ihm zu kommen. Sie wollte eigentlich, dass er zu ihr kam, aber sie konnte nicht widerstehen. »Aus Träumen wacht man immer auf.«
Tinsley löste sich von dem Waschbecken und betrat mit ihren nackten Füßen den kalten Fliesenboden der Dusche. Sie zog den Duschvorhang hinter sich zu und ließ die Hand über Julians Brust gleiten. Dann drängte sie ihn an die Kabinenwand und küsste ihn, als hätte sie ihn seit Monaten nicht gesehen. Dabei waren es tatsächlich nur drei Stunden.
»Hab ich dir gefehlt?«, gurrte sie zwischen zwei Küssen. Er fasste sie um die Taille. Seine Finger spielten mit dem Saum ihres roten American-Apparel-T-Shirts, in der Hoffnung, daruntergleiten zu dürfen.
Julian stieß ein Stöhnen aus und seine Hände berührten Tinsleys nackte Haut. Sie erschauerte ein wenig, als seine Finger kööööstlich laaangsam ihre Rippen hinaufwanderten, und gerade wollte sie sie mit einem Klaps zurechtweisen – denn so weit konnte er ohne ihre Zustimmung natürlich nicht gehen -, da wurde die Badezimmertür geräuschvoll aufgerissen. Ihre Lippen lösten sich voneinander und sie starrten sich erstaunt an, doch seine Hände nahm Julian nicht von ihrem Körper.
Tinsley drückte einen Finger auf Julians Lippen. Ihr Puls raste. Während sie den Atem anhielten, begann der Eindringling zu trällern. »Da da da … da da da dadada …« In Julians schönen Augen standen Fragezeichen, und Tinsley versuchte auszuknobeln, zu welcher Person die Stimme gehörte. Wenn es ein Mädchen war, das man leicht einschüchtern konnte, eine Neuntklässlerin oder eine langweilige Streberin, dann war es keine große Sache. Tinsley würde sich des Dummchens wahrscheinlich sogar bedienen können, um Julian in ihr Zimmer zu schmuggeln, und sie könnten ihr romantisches Techtelmechtel dort fortsetzen.
Der Eindringling machte sich offenkundig an der Toilette zu schaffen, und als ein nicht zu missdeutendes Sssssss in die Duschkabine drang, hielten die beiden an sich, um nicht zu kichern. Gerade wollte Tinsley hinter dem Vorhang vorspicken, da ging der Singsang in Worte über. »Don’t stand, don’t stand so, don’t stand so close to me ... «
Tinsley klappte der Mund auf. Verflucht. Klar wusste sie, dass die Pardee ein dämlicher Police-Fan war. Und Tinsley, nein, nicht nur Tinsley, das ganze Stockwerk hatte gehört, wie Angelica Pardee heute Morgen lauthals ihren Mann angepfiffen hatte, er solle endlich die Dusche reparieren »oder einen richtigen Mann herbeischaffen«, der das zustande brachte. Offensichtlich war Mr Pardee an der Aufgabe gescheitert. Tinsley drückte den Finger fester auf Julians Lippen, und sie hörten, wie Pardees Flipflops über die Fliesen klatschten. Welche Ausrede sollte Tinsley ihrer Hausaufsicht auftischen, wenn die den Vorhang aufzog und sie mit einem Jungen in der Duschkabine fand?
Der Vorhang der angrenzenden Kabine wurde zugezogen und das Wasser angedreht. Bei allem, was Tinsley teuer war, das war knapp. »Komm!«, formten ihre Lippen, und sie nickte zur Tür. »Wir müssen verschwinden.«
Julian stellte sich dumm und flüsterte: »Was? Du willst noch weiterknutschen?« Er beugte sich vor, um sie zu küssen.
»Später!«, entfuhr es ihr laut, doch zum Glück hatte die Pardee ihr Geträller wieder aufgenommen.
»Her friends are so jealous, you know how bad girls get ... «
Tinsley verdrehte die Augen, schob vorsichtig den Duschvorhang zurück und schlich hinaus. Julian zerrte sie hinter sich her. Sie deutete auf das Fenster, aber als er hindurchsteigen wollte, tauchte unten auf dem Fußweg eine Gruppe Mädchen auf, die auf den Haupteingang von Dumbarton zusteuerte. Oh nein, es kam gar nicht infrage, dass sie Julian vor deren Augen
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