Sueß, naiv und intrigant
Es war nur schwach zu hören, kam aber eindeutig aus der Kammer. Neugierig öffnete sie die Tür einen Spaltbreit.
»Heiliger Bimbam!« Jenny fuhr zurück. Da war jemand! Ein Junge ! Wahrscheinlich hätte sie geschrien, wenn sie nicht sofort erkannt hätte, dass es Julian war, der Lange aus der Neunten, der ständig mit den älteren Jungs rumhing. Er hielt ein schwarzes Handy in der Hand und hatte den Daumen gehoben, um irgendwas in die Tasten zu tippen.
»Pscht!«, zischte er und sah fast genauso erschrocken aus wie Jenny.
»Was machst du hier?«, flüsterte sie zurück und spähte den Gang entlang. Er war leer, aber aus dem Gemeinschaftsraum drangen die Stimmen von Benny Cunningham und ein paar anderen Mädchen.
»Ich hab, äh...« Julians Pupillen waren vom Aufenthalt im Dunkeln stark erweitert, und Jenny fragte sich, wie lange er wohl schon da drin gewesen war. Und wie war er überhaupt da reingekommen? »Ich hab nach was gesucht, was ich am Wochenende hier verloren hab.«
Jenny lächelte skeptisch. »Was, dein Putztuch?« Sie lehnte den Kopf an die Türkante und wurde sich plötzlich der Tatsache bewusst, was die Gegenwart eines Jungen in Dumbarton bedeutete.
Julian fummelte am Saum seines eng anliegenden ausgefransten Pearl-Jam-T-Shirts herum. Ein anthrazitfarbenes Flanellhemd war lässig um seine Hüften geschlungen. »Na ja, man soll ja unter jedem Stein nachgucken, wenn man was wiederfinden will, nicht wahr?«
»Oh, absolut.« Jenny zog die Augenbrauen hoch und spielte sein Spielchen mit. Schade, dass sie ausgerechnet jetzt ihren unförmigen Diesel-Pullover anhatte und nicht irgendwas Aufregendes. »Und was genau suchst du?«
Seine braunen Augen blitzten in der Dunkelheit auf, als würde ihre Frage ihn überraschen. Jenny konnte ein Kichern nicht unterdrücken. Es war lustig zu beobachten, wie er sich aus der Situation herauszuwinden versuchte. Er blickte über ihre Schulter. »Mein... äh... mein Feuerzeug.«
Jenny nickte verständnisvoll und klickerte mit den Nägeln auf der Messingklinke. »Ich halte die Augen offen. Wie sieht es aus?«
»Es ist ein Zippo. Silbern, mit meinen Initialen – JPM.« Er schwieg und grinste und unter seinen aufgesprungenen Lippen entstand ein kleines Grübchen. »Hast du es gesehen?«
»Leider nicht.« Jenny kicherte wieder und schüttelte den Kopf. Sie musste unwillkürlich daran denken, wie kraus ihr Haar wohl im Moment aussah. »Für was steht das P ?«
Julian wickelte sich das Hemd von den Hüften und schlüpfte hinein. Dabei stieß er sich den Kopf am obersten Regalbrett – tja, er war eben alles andere als ein Zwerg. »Padgett.«
»Padgett«, wiederholte sie nachdenklich. Wahrscheinlich der Name von einer dieser feinen Familien. »Cool.«
»Hör mal, versteh mich nicht falsch.« Julian rieb sich verlegen den Kopf. »Es macht echt Spaß, mit dir zu plaudern und so, aber, äh, ich bin nicht so wild darauf, von der Schule zu fliegen. Und du willst wahrscheinlich auch nicht für so verrückt gehalten werden, mit einer Besenkammer zu reden.«
»Ah, na klar.« Sie kicherte. »Ich geh mal nachsehen, ob die Luft rein ist.« Jenny schloss leise die Tür und schlich den Gang entlang bis zum Gemeinschaftsraum. Ungefähr acht Mädchen klebten vor dem Fernseher und sahen sich Wiederholungen von Grey’s Anatomy an. Die würden sich nicht rühren, bis ihr Programm durch war, nicht mal während der Werbung. Sie drehte sich rasch um und stieß fast mit Angelica Pardee zusammen, die aus dem Mädchenwaschraum kam. Sie war in einen dicken geblümten Bademantel gehüllt, der aus dem Schrank ihrer Großmutter zu stammen schien, und um den Kopf hatte sie einen weißen Handtuchturban gewickelt. »Hi!«, grüßte Jenny munter und trat zur Seite, um sie durchzulassen.
»Hi, Jenny.« Die Pardee nickte. Wie üblich machte sie ein mürrisches Gesicht. »Ist dir auch aufgefallen, dass die Duschbrausen ein bisschen lahm sind?«
»Äh, nein, ist mir noch nicht aufgefallen.« Jenny versuchte, mit ganz normaler Stimme zu reden, aber an der Art, wie die Pardee sie ansah, konnte sie ablesen, dass sie vielleicht eine Spur zu aufgekratzt klang. Sie würde nie im Leben beim Pokern gewinnen.
»Na gut.« Die Pardee seufzte und setzte sich in Richtung ihres Apartments in Bewegung. »Dann muss ich darüber wohl auch mit dem Hausmeister-Service reden.« Ihre Flipflops klatschten auf den glänzenden Mahagoniboden und hinterließen eine feuchte Spur. Jenny wartete, bis die Tür der Pardees ins
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