Sueß, naiv und intrigant
konnte ihm ansehen, dass er sie küssen wollte, wie er es so viele Tausend Mal getan hatte – und es brach ihr schier das Herz. Ja, sie hatte mit jeder Faser gehofft, dass er einsehen würde, wie dumm er sich benommen hatte. Und ja, sie hatte gehofft, dass er reumütig zu ihr zurückgelaufen kommen würde, sich ihr zu Füßen werfen und sie um Vergebung bitten würde. Er fehlte ihr so. Sie vermisste sein tiefes Lachen, das irgendwo aus seinem Bauch kam. Sie vermisste es, wie er eine Augenbraue hochzog, wenn er glaubte, dass sie ihn auf den Arm nahm. »Na und? Das bunte Laub gibt einen ziemlich coolen Hintergrund ab, vor allem bei Sonnenuntergang«, sagte er.
Callie spürte, wie sein Blick sie von Kopf bis Fuß einhüllte. Sah er alle seine Modelle so an? Vor ein paar Wochen hatte Tinsley angedeutet, dass Easy genau hier, an diesem Ort, Jenny gemalt hatte. Das hatte wehgetan. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass er ihr noch mal wehtat, nicht mehr auf diese Art. Callie schüttelte naserümpfend den Kopf. »Und, was soll ich jetzt machen? Vor welkem Laub stehen?«
Easy kratzte sich den Nacken, kniff die Augen zusammen und nahm ihr Gesicht eingehend in Augenschein. Callie bekam Herzflattern. »Ich möchte erst ein paar Skizzen machen, um Ideen zu sammeln.« Er griff nach einem riesigen Skizzenblock und zog einen kurzen Stift hinter dem Ohr hervor. »Vielleicht setzt du dich erst mal auf den Stein dort?«
Callie beäugte den Felsen. Irgendwie hatte sie sich unter Modellsitzen vorgestellt, dass man sich auf ein luxuriöses Plüschsofa drapierte, vielleicht nur in einer seidenen Robe, die lose übergeworfen war... Und nicht auf so einem schmutzigen ollen Felsbrocken hocken musste, mitten im Oktober, wo es schon eiskalt war und man eine gefütterte Weste mit pelzbesetzter Kapuze brauchte. Wenn Easy eine Eskimofrau malen wollte, hätte er sich in der Bibliothek eine Vorlage raussuchen können. Grr. Na gut, wie auch immer. Er war schließlich der Künstler. Sie ließ sich auf dem Fels nieder und stemmte die Absätze auf einen schmalen Steinvorsprung. »So?«
»Du siehst aus, als ob es dir stinkt, auf einem Felsen sitzen zu müssen«, sagte Easy mit einem Lächeln, als durchschaute er sie. »Oder als ob du gezwungen wirst, so direkt mit Mutter Natur in Berührung zu kommen.«
Dass sie ein bisschen so etwas wie ein verhätscheltes Prinzesschen war, machte Easy irgendwie an, das wusste Callie. »Okay. Wie wäre es damit?« Sie drehte sich auf dem Felsen herum, beugte sich über den Stein und umarmte ihn mit ausgestreckten Armen. »Oh du Felsen, ich liebe dich ja so, und es ist herrlich, auf dir zu sitzen, auch wenn du kalt und schmutzig und unbequem bist.« Sie versuchte, so verliebt wie möglich auszusehen, und warf dem Stein Kusshände zu. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie sich Easy vor Lachen bog.
Es feuerte Callie an und sie verbiss sich richtiggehend in ihr Spiel. Sie nahm eine Reihe von übertriebenen Posen rund um den Felsbrocken ein, dann stand sie auf und trommelte auf das Holz von Birken ein. »Ach ihr Bäume, oh Natur«, zwitscherte sie, umschlang einen dünnen weißen Birkenstamm und tat so, als würde sie ihn küssen. Ganz nah kam ihr Mund der abblätternden weißen Borke, so nah, wie Callie es sich nur traute, ohne bei dem Gedanken an all das Viechzeug, das darin leben mochte, Ausschlag zu bekommen. Sie warf ihr Haar in die Luft wie eine scheinwerferverliebte Diva, während Easys Stift über das Papier flog.
Als Callie sich wieder von dem Baum lösen wollte, spürte sie ein heftiges Ziehen an der Kopfhaut. »Au!«, schrie sie auf und fasste sich an den Kopf. Ihr Haar hatte sich in einem der Äste verfangen. Scheißnatur!
»Alles in Ordnung?« Easy hatte Block und Stift fallen lassen und war sofort an ihrer Seite. »Nicht ziehen.« Er reckte sich über sie, um ihr Haar aus dem Ast zu befreien, und sie atmete den vertrauten Geruch nach Ivory-Seife, vermischt mit leichtem Stallgeruch, ein. Sie sah zu ihm auf, wie er sich zärtlich um ihre Haarsträhnen bemühte und versuchte, ihr nicht an der Kopfhaut zu zerren, und sie merkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.
»So.« Easy bog den Ast von ihrem Kopf fort. »Du bist frei.« Und dann sah er ihr Gesicht. »Hab ich dir wehgetan?«
Nicht weinen, nicht weinen, nicht weinen , befahl Callie sich, aber das brachte die Tränen erst recht zum Fließen. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. »Ja«, sagte sie leise, und es stimmte ja auch. Zwar
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