Sueß, naiv und intrigant
Formschnitt-Gehölze vor Dumbartons Mauerwerk etwas bewegte. Das war doch Julian. Hing der schon wieder hier herum! Jenny winkte Callie nach und stapfte zu dem Busch. Obwohl sie sich ja sagte, dass gelegentlich verschwitztes Aussehen ganz selbstverständlich zum gesunden, natürlichen Leben im Internat gehörte, zog sie sich rasch das Gummiband vom Pferdeschwanz und schüttelte die Haare aus, sodass ihr die dunklen Locken um die Schultern fielen. Das sah doch ein bisschen besser aus.
Julian stand mit den Händen in den Hosentaschen an die efeubewachsene Wand gelehnt und wirkte ertappt. Er trug ein blassgrünes T-Shirt, auf dem in gelben Lettern ES IST NICHT, WAS DU DENKST prangte.
»Horch! Wer kommt des Weges?«, intonierte Jenny. Sie hatte im Unterricht von Miss Rose gerade Hamlet gelesen und war noch ganz in Shakespeare-Stimmung. Sie hielt ihren Hockey-Schläger wie ein Schwert gezückt, die Spitze direkt auf die Aufschrift von Julians T-Shirt gerichtet …
Er zog die Augenbrauen hoch und machte auf Humphrey Bogart: »Wir sollten diese heimlichen Treffen lieber sein lassen.«
»Na hör mal, ich wohne hier.« Jenny grinste und ließ den Hockey-Schläger sinken. Sie sah sich um, niemand war in der Nähe. Das erste Mal hatte sie mit Julian geplaudert, als der in einer Besenkammer steckte, und jetzt klemmte er hinter einem Busch. An welch kuriosem Ort würde er wohl das nächste Mal auftauchen? Ah, und überhaupt: Was trieb er eigentlich hier? »Lass mal deine Ausrede hören. Suchst du schon wieder dein – was war es doch noch? Dein Feuerzeug ?«
»Spaßvogel.« Er zuckte die Schultern. Im selben Moment fiel ein Strahl der untergehenden Sonne durch den elegant zugeschnittenen Busch, hinter dem er stand, und strahlte ihn an. »Nein, nein. Ich bin einfach nur so … vorbeigekommen.«
Das goldrote Licht ließ die Umrisse seines Gesichts deutlich hervortreten, und Jenny fiel zum ersten Mal auf, was für gut modellierte Wangenknochen er hatte, wie tief seine dunklen Augen lagen und wie krumm seine Nase war. Er hatte ein Gesicht, das in Marmor toll aussehen würde, ging es ihr durch den Kopf. Dann merkte sie, dass es längst wieder an ihr war, etwas zu sagen. Aber Shakespeare hatte sie im Stich gelassen. »Hm. Und was genau denke ich?«, fragte sie. Hoffentlich sah ihr Gesicht eher rosig aus und nicht rot wie kurz vor einem Herzanfall.
Julian lächelte sie an, wirkte aber irgendwie verwirrt, als habe er den Faden des Gesprächs verloren. »Äh, was?«
»Dein T-Shirt.« Jenny deutete darauf und zog fragend die Brauen hoch. »Wahrscheinlich wirst du doch schon den ganzen Tag darauf angesprochen.«
Julian sah auf seine Brust hinunter, und allmählich schien ihm zu dämmern, was sie meinte. »Nee, um genau zu sein, hatte ich heute mein Sea-World-T-Shirt an.« Er neigte den Kopf und zuckte die Schultern, was ihn wie einen kleinen Jungen aussehen ließ. »Hab mich gerade umgezogen.« Das Grübchen unter seinen Lippen wurde tiefer.
Jenny prustete los. Julian hatte so etwas Lustiges, Freundliches, Offenes an sich. Es war nett, mit ihm zu flirten. Das lenkte sie von einem gewissen anderen hochgewachsenen, gut aussehenden Jungen ab. »Ich weiß, das klingt jetzt total verrückt, aber würdest du mir Modell sitzen? Für mein Kunstprojekt?« Hoffentlich glaubte er jetzt nicht, sie wolle ihn anmachen. Das tat sie nicht. Nicht wirklich. »Ich finde, du wärst ein tolles Modell.«
Er wirke völlig verblüfft und sah sich um. Hilfe! Lieber Gott, bitte mach, dass er das jetzt nicht falsch aufgefasst hat!
»Äh, jetzt gleich? Hinter der Hecke?«
»Bloß nicht!« Jenny strich sich eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr. Unfassbar, da schlug sie hier Wurzeln mit einem total süßen Jungen, wo sie doch von Kopf bis Fuß verschwitzt war und allerdringendst duschen sollte. Wenigstens konnte er sie von seinem Versteck aus nicht riechen, hoffte sie jedenfalls. »Ich meine, nicht jetzt sofort. Vielleicht morgen?«
»Ich kann mich nicht erinnern, jemals als Kunstwerk fungiert zu haben.« Er spielte an einem Zweig herum. »Klingt irgendwie cool.«
»Fein.« Jenny klopfte mit dem Hockey-Schläger an die Backsteinmauer. »Ich schick dir’ne E-Mail wegen einem Termin.« Sie lächelte schüchtern. »Falls ich dich nicht vorher in der Besenkammer sehe.«
Während er in Gelächter ausbrach, lief sie ins Haus. Als sie zu Zimmer 303 hinaufhüpfte, wurde ihr klar, dass es auf dem Campus noch andere süße Jungs gab außer Easy.
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