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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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und Trauer zu schreiben, greife ich jetzt mit einem lachenden und einem weinenden Auge zur Feder. Ja, der Schmerz ist da, doch auch die Freude. Ein Glück im Augenblick des Scheidens, das nur Du mir schenken konntest.
    Ich bitte Dich, diesen Abschiedsbrief für Dich zu behalten. Élise kannst Du ihn zeigen, aber nicht Deiner Mutter oder Deinen Schwestern. Du bist der Einzige, der einen solchen Brief von mir erhält.
    Gewiss, da Du in weiter Ferne weilst, hätte ich gar keine andere Möglichkeit gehabt, als mich auf diesem Wege von Dir zu verabschieden. Deine Mutter und Deine Schwestern sind bei mir, ihnen kann ich von Angesicht zu Angesicht Lebewohl sagen. Doch selbst wenn Du zu Hause wärst, selbst wenn ich mich von Dir so verabschiedet hätte wie von den anderen Mitgliedern unserer Familie, hätte ich Dir geschrieben. Dir und nur Dir. Denn was ich Dir zu sagen habe, betrifft Dich allein. Dazu kommt das Gefühl, dass ich nie genug mit Dir gesprochen habe. Seit Deiner Kindheit wünschte ich mir einen ständigen Dialog mit Dir, was natürlich unmöglich ist. Außerdem wollte ich Dir nicht zur Last fallen. Ich habe immer gern und viel geredet. Warum sollte ich Dir mit meiner S chwatzsucht auf die Nerven gehen? Und Du, ein grüblerisches Kind, der geborene Intellektuelle, der immer mit seinen Gedanken beschäftigt ist, hast es mir nicht leicht gemacht. In unseren viel zu seltenen Gesprächen ging es nie um persönliche Dinge, nie um das Verhältnis zwischen uns beiden und um unsere Beziehungen zu anderen Menschen. War es richtig, dass ich mich im Umgang mit Dir so zurückgehalten habe? Vielleicht für Dich, doch mir hat die innere Verbindung zu Dir immer gefehlt. Und jetzt, jetzt will ich endlich versuchen, die Kluft zwischen uns wenigstens ansatzweise zu überbrücken. Ich möchte zum ersten und zum letzten Mal einen winzigen Teil von dem nachholen, was ich mir immer versagt habe.
    Ich liebe Deine Mutter und Deine Schwestern von ganzem Herzen. Zu Deiner Mutter war es Liebe auf den ersten Blick. (Sie brauchte etwas länger, um sich auf mich einzulassen, ganz einfach, weil sie klüger und weniger voreilig ist …) Es war am Abend des 14. Juli. Auf der Place de la République herrschte wie jedes Jahr ein fröhliches Treiben. Sogar jetzt im Krieg bricht an diesem Tag trotz der gedrückten Stimmung die Festesfreude durch … Das Volk tanzte zu den Klängen des Akkordeons. Auf der Suche nach einer Tanzpartnerin umringten die Burschen die Scharen junger Mädchen, die sich noch zierten, aber durch verstohlene Blicke zu verstehen gaben, dass sie gar nicht so abgeneigt waren. Und da merkte ich, dass mich eines der Mädchen, von seinen Freundinnen umgeben, ganz offen ansah. Oder war es nur Wunschdenken? Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich sie als Erster angestarrt hatte. Ein schmales Geschöpf mit schlanken Beinen, schwarzen Haaren, die ihr bis auf die Schultern hingen, und riesengroßen braunen Augen, die im Sonnenlicht ins Grünliche changierten. Augen wie … Ja, wie die Deinen! Mein Puls ging schneller. Plötzlich versank alles um mich – die Freunde, die Tänzer, der ganze 14. Juli. Ich sah nur noch dieses Mädchen. Einen Augenblick schoss mir der Gedanke durch den Kopf: Sie ist keine Jü d in, das sieht man gleich (frag mich nicht, wie man so etwas sieht). Meine armen Eltern werden sich auf die Zunge beißen, wenn ich sie mit nach Hause bringe. Letzten Endes ist ihnen dieser Kummer erspart geblieben, weil Josianne sich als Jüdin entpuppte. Mir wäre es gleich gewesen, doch ich war froh, dass ich meine alten Eltern nicht zu kränken brauchte.
    Seitdem liebe ich Deine Mutter mit jeder Faser meines Herzens. Ich hänge an ihr, als wären wir siamesische Zwillinge. Die Geburt Deiner Schwestern war für mich jedes Mal so etwas wie der Anbeginn der Schöpfung. Ein grenzenloses Glück. Ich liebe jede von ihnen, wie ein Vater nur lieben kann. Doch Du, Louis, bist für mich etwas Einzigartiges, das über die Liebe des Ehemanns und Vaters hinausgeht. Dich liebe ich mehr als alle anderen Menschen auf der Welt. Ich hätte nie gedacht, dass ein menschliches Herz eine solche Liebe fassen kann. Alles, was Dich betrifft, bewegt mich zutiefst. Wenn Du froh bist, freue ich mich mit Dir, wenn Du leidest, bin ich so traurig, als sei meine Welt über mir zusammengebrochen.
    Seit Anfang des Krieges lebe ich in ständiger Angst. Ich habe das Gefühl, dass seitdem mein Blutdruck gestiegen ist, ohne sich je wieder zu normalisieren. Mir ist,

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