Suess und ehrenvoll
als sei ich an Deiner Seite und hörte die Kugeln um Deinen Kopf pfeifen. Ich bange um Dich, bange um Dein Leben. Wer weiß, ob diese ständige innere Unruhe die Entwicklung meiner Krankheit nicht begünstigt hat. Ich bemühe mich nach Kräften, mir nichts anmerken zu lassen, vor allem Deiner Mutter und Deinen Schwestern gegenüber. Ob mir das gelingt, weiß ich nicht, aber da wir alle, insbesondere Deine Mutter, uns dauernd Sorgen um Dich machen, sind wir stillschweigend übereingekommen, dieses Thema zu meiden. Was nützt es, darüber zu reden? Damit geben wir nur den Ängsten neue Nahrung. Gewiss, ich bin nicht der einzige Vater, der um seinen Sohn an der Front bangt. Es gibt Millionen Väter wie mich. Doch mein subjektives Gefühl ist eben, dass ich mehr um Dich bange als j eder andere Mensch. Mehr als jeder Vater und jede Mutter, deren Kind in Gefahr schwebt, im Krieg zu fallen oder verwundet zu werden.
Über Deine Geburt haben wir Dir einiges erzählt, aber Du hast noch nicht alles gehört. Obwohl die Geburt Deiner Schwestern uns mit unbeschreiblicher Freude erfüllte, haben wir uns insgeheim auch einen Sohn gewünscht. Warum einen Sohn, fragst Du? Deine Mutter und ich halten uns für liberale, vorurteilslose Menschen. Die Gleichberechtigung der Geschlechter steht für uns außer Frage. Wie Du weißt, sind wir nicht religiös. Die jüdische Religion ist für uns keine Glaubenssache, sondern Teil unserer Kultur und unseres gesellschaftlichen Lebens. Es ging uns nicht darum, einen Sohn zu zeugen, der eines Tages über unserem Grab das Kaddisch sagen wird. Die Vorstellung, dass ein Sohn der Familie Ehre bringt oder dass er seine Eltern im Alter unterstützen muss, ist uns fremd. Wir wünschten uns nur, außer Töchtern auch einmal einen Sohn zu haben. Für uns war eine bunt gemischte Familie mit Söhnen und Töchtern so etwas wie ein Idealbild. Wir sprachen nie darüber, damit es nicht so klang, als seien wir nicht glücklich über die Geburt unserer Töchter. Nach der Geburt Deiner jüngsten Schwester sagte ich zu Deiner Mutter, wir sollten es dabei belassen. Schließlich waren wir doch mit unseren drei Mädchen überreich beschenkt. Deine Mutter stimmte zu, doch nur zum Schein. Zehn Jahre nach der Geburt von Françoise sprach sie wieder von einem vierten Kind, doch ich fühlte mich zu alt, um noch einmal ein Baby großzuziehen. Außerdem war es mir ein wenig peinlich, mit über vierzig wieder Vater zu werden. Ich hätte schon Großvater sein können. Wie sieht das aus, ich in meinem Alter mit einem Säugling, der nicht mein Enkel ist, sondern mein eigenes Kind? Doch Deine Mutter ließ mir keine Ruhe. Ich fragte sie: »Woher weißt du, dass es diesmal ein Sohn wird?«, und sie sagte: »Hauptsache, wir bekommen noch ein Kind. Ich bin a uch nicht mehr die Jüngste. Das ist meine letzte Chance, ein Kind zur Welt zu bringen, und wenn es wieder eine Tochter wird, werde ich mich genauso freuen.«
Während der ganzen Schwangerschaft Deiner Mutter plagte mich ein Gefühl des Unbehagens. Eine Art Furcht vor dem Ungewissen. Ja, ich gebe es zu, es waren nicht nur die Bedenken wegen der zusätzlichen Belastung und Verantwortung, sondern auch die Befürchtung, mich lächerlich zu machen.
Die Geburt Deiner Schwestern habe ich nicht miterlebt. Ich saß im Wartezimmer neben dem Entbindungsraum, bis die Hebamme herauskam, um mir die frohe Nachricht zu überbringen, und ging erst dann zu Deiner Mutter hinein. Diesmal bestand Deine Mutter darauf, dass ich vom Beginn der Wehen bis zur Geburt bei ihr blieb – zum großen Erstaunen der Hebamme, die es jedoch nicht wagte, sich einzumischen.
Anfangs hatte ich nur Augen für Deine Mutter. Ich hielt ihr die Hand, wischte ihr den Schweiß von der Stirn und bangte bei jeder Wehe um sie, als wäre sie sterbenskrank. Doch plötzlich wurde das Köpfchen sichtbar, eine rötliche Kugel mit geschlossenen Augen, nicht größer als ein Granatapfel, und dann folgte, mithilfe der Hebamme, Dein kleiner Körper. Du fingst sofort an zu schreien, und ich stand da und starrte Dich wie verzaubert an. Ein winziges, strampelndes Wesen, das aus Leibeskräften schrie und puterrot anlief, als sei es empört darüber, dass man es aus der Geborgenheit des Mutterschoßes herausriss. Einen Augenblick lang vergaß ich Deine Mutter und ihre Schmerzen. Meine albernen Bedenken wegen dieser »unschicklichen« Geburt und den Mühen der Aufzucht eines neuen Säuglings waren verflogen. Mir war es vollkommen
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