Suess und ehrenvoll
über. Fast möchte ich sagen, dass dieser Brief für mich die Erfüllung meines Lebens bedeutet. Er bestätigt mich in meinem Glauben an Deine glückliche Zukunft.
Ich nehme Abschied von Dir, Louis, dem Menschen, den ich am meisten geliebt habe. Wer dem Tod ins Auge sieht, legt vor sich Rechenschaft ab: Habe ich richtig gelebt? War mein Leben gut? Habe ich das Beste daraus gemacht? Wenn Du diese Fragen bejahen kannst, wirst Du ruhig und zufrieden aus der Welt scheiden. Und ich glaube wirklich, dass mein Leben – mit allen Höhen und Tiefen, die zum Los jedes Menschen gehören – erfüllt und glücklich gewesen ist.
Daher bitte ich Dich: Sei nicht traurig, wenn Du diesen B rief liest. Lass Dich dadurch nicht betrüben. Dein Vater scheidet in Frieden. Und viel, sehr viel davon habe ich Dir zu verdanken. Du warst nicht nur ein vereinzelter Sonnenstrahl, der an einem kalten, grauen Wintertag die Wolken durchbricht. Du warst die Sonne meines Lebens. Vom Tag Deiner Geburt an bis zu meinem Tod. Lebe wohl, mein Liebster. Sei glücklich. Das ist meine größte und letzte Bitte an Dich.
Dein Vater Lucien
Schon nach den ersten Zeilen waren Louis die Tränen in die Augen gestiegen. Er entfernte sich von seinen Kameraden und fand einen Platz in einem Abteil mit Soldaten, die er nicht kannte, setzte sich mit dem Rücken zu ihnen auf seinen Eckplatz und las weiter. Er musste sich ständig die Augen wischen und die Nase putzen. Als er den Brief zum zweiten Mal gelesen hatte, konnte er nicht mehr an sich halten und fing an zu weinen. Ihm war, als würde der Tränenstrom nie versiegen. Nach einer Weile fasste er sich und brachte den Rest der langen Reise in sich gekehrt und schweigend zu. Alle seine Gedanken kreisten um den geliebten Vater. Er versank in Erinnerungen an zahllose gemeinsame Erlebnisse. Es gab tausend Dinge, über die er mit ihm hätte reden wollen. Wie sehr bereute er jetzt, dass er nicht mehr Zeit für Gespräche mit seinem Vater gefunden hatte, seinem besten Freund, den er niemals wiedersehen würde. Dann fiel ihm Élise wieder ein. Zum ersten Mal, seit er sie kannte, hatte er einige Stunden nicht an sie gedacht. Das war ihm nicht einmal auf dem Höhepunkt der Kämpfe passiert. Was sollte er tun? Konnte er jetzt wie geplant die nächsten drei Wochen mit ihr verbringen? Musste er nicht sofort nach Bordeaux fahren?
Am Bahnhof in Paris umarmte Élise ihn leidenschaftlich. Dass etwas mit ihm nicht stimmte, merkte sie sofort. Hatte die Hölle am Chemin des Dames ihn so verändert? War er deprimiert wegen seiner Verwundungen? Er war zwar auf sie zugerannt, hattesie heftig an sich gedrückt und geküsst, und doch sah er aus, als sei etwas in ihm erloschen.
»Komm schnell nach Hause«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
»Nein, lass uns erst ein paar Minuten in das Café hier am Bahnhof gehen.«
Im Café reichte er ihr wortlos den Brief. Élise las ihn langsam und gründlich. Sie spürte, wie sich ihre Kehle zusammenschnürte. Dann sagte sie mit erstickter Stimme: »Komm, Louis, wir gehen zur Post und schicken deiner Mutter ein Telegramm. Dann gehen wir nach Hause. Und morgen fahren wir zusammen nach Bordeaux.«
26
I M S CHWARZWALD
— Anfang 1917 —
Nach Weihnachten teilte die diensthabende Krankenschwester Ludwig mit, man werde ihm jetzt den Gips abnehmen. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, der jedoch sehr bald in schmerzliches Stöhnen umschlug.
Beim Durchsägen des dicken Gipsverbands trat ein knochendürres, mit gelblicher Haut überzogenes Bein zutage, und als er es bewegte, durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz. Noch schlimmer war es, die Gelenke in Bewegung zu setzen. Er versuchte, das Knie zu beugen, und spürte einen Stich, als habe man ihm ein Messer ins Bein gestoßen. Durch die monatelange Ruhigstellung war das Knie völlig steif, wie eingerostet. »Da helfen nur warme Bäder und Gymnastik«, sagte die Schwester zu Ludwig. »Morgen werden Sie nochmals untersucht und danach in ein Erholungslager im Schwarzwald gebracht. Dort wird man Sie intensiv behandeln, dann können Sie ganz bald wieder an die Front.«
›Wie soll ich an die Front zurück‹, dachte Ludwig, ›wenn ich mein Bein nicht bewegen kann? Dass ich mit dem Bein bald wieder auftreten kann, ist undenkbar!‹ Und dennoch zog es ihn zu seinen Kameraden, denn keinesfalls wollte er als Drückeberger erscheinen. Er verbrachte eine schlaflose Nacht und sehnte sich nach seinem Gipsverband. Kaum war es ihm gelungen, endlich
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