Suess und ehrenvoll
gleichgültig, ob man darüber lächeln würde, dass ein Mann in meinem Alter noch Vater wurde. All das war vergessen, und zwar nicht nur in diesem Moment, sondern für immer.
Eine Welle der Euphorie überschwemmte mich. Ich konnte d ie Augen nicht von Dir abwenden. Vom ersten Blick an war ich in Dich verliebt. Es war totale, bedingungslose Liebe. Ich musste mich von Deinem Anblick regelrecht losreißen, denn Deine Mutter hatte noch immer Schmerzen. Ich küsste sie zärtlich. Meine Lippen glitten über ihre schweißfeuchte Stirn. Erst dann hörte ich die Stimme der Hebamme, die damit beschäftigt war, Dich zu waschen. »Ein Sohn!«, sagte sie. »Sie haben einen Sohn!«
Ach richtig! Deine Mutter und ich brachen in Lachen aus. Wir fühlten uns wie beschwipst vor Glück. Auf das Geschlecht des Kindes hatten wir in der Aufregung gar nicht geachtet. Das winzige Geschöpf hatte mit seinem ersten Schrei unser Herz erobert. Dann sagte Deine Mutter zu mir: »Lucien, da wir jetzt einen Jungen haben, können wir uns einen Namen überlegen.«
»Was schlägst du vor?«, fragte ich, und sie antwortete: »Ich habe Napoleon immer sehr bewundert, sollen wir ihn Napoleon nennen?«
»Das klingt albern«, wandte ich ein. »Man kann doch einem Kind nicht einen so pompösen Namen aufbürden. Aber wenn du historische Vorbilder vorziehst, warum dann nicht den Namen eines französischen Königs? Wie wäre es mit Louis? Schließlich hatten wir achtzehn Könige dieses Namens und noch einen, der Louis Philippe hieß.«
»Ja, das ist gut«, stimmte Deine Mutter zu, »ein Königsname für unseren Prinzen. Wunderbar.«
Bei Deiner Beschneidung wollte unser alter Rabbiner Tolède, den Du nicht mehr kennengelernt hast, Dir auch einen jüdischen Namen geben. »Wenn schon ein Königsname«, sagte der Rabbiner, »warum nicht David, nach dem größten König des Volkes Israel?« Ich muss gestehen, dass ich an jenem Morgen etwas nervös war. Die Beschneidungszeremonie machte mir Angst. Ich fürchtete den Schmerz, den man Dir zufügen würde. Dir, einem so kleinen, hilflosen Wesen!
» Wo denken Sie hin«, sagte ich deshalb unwirsch zu dem alten Rabbiner. »Der Junge ist Franzose, er wird mit Stolz einen berühmten französischen Namen tragen, dem braucht man nichts hinzuzufügen.«
Heute denke ich, dass ich mich lächerlich benommen habe, und nicht der alte Rabbiner Tolède. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Solche Dinge werden Dich wenig interessieren, wenn Du in einem dieser schrecklichen Schützengräben sitzt.
Ja, Louis, ich war auf den ersten Blick in Dich verliebt und bin es bis heute. Jede Phase in Deinem Leben, jedes Stadium Deiner körperlichen und geistigen Entwicklung versetzte mich in andächtiges Staunen. Dein Lächeln, das schon damals mein Herz schmelzen ließ, wurde von Jahr zu Jahr unwiderstehlicher.
Ja, auch heute, da Du erwachsen bist, ein Soldat, nein, ein Offizier, der gekämpft und gelitten hat, der in mancher Hinsicht reifer ist als ich, ist Dein Lächeln für mich der Gipfel der Seligkeit! Ein spontanes Lächeln, das aus tiefster Seele kommt und ein Glück und eine Freude ausdrückt, die nicht reiner und argloser sein könnten. Es schien unendlich lang zu dauern, bis es so weit war, dass ich mich mit Dir unterhalten konnte, obwohl Du ziemlich früh gesprochen hast. Du konntest Dich schon ausdrücken und sogar Fragen stellen, als andere Kinder Deines Alters nur wenige Worte stammelten. Das Bedürfnis, mit Dir zu reden, ließ mir keine Ruhe. Als heranwachsender Junge musstest Du Dir endlose Geschichten und weitschweifige Vorträge über alle möglichen Themen anhören. Vielleicht wollte ich nachholen, was ich bei dem langen Warten auf den verbalen Austausch mit Dir versäumt hatte. Ich konnte mit Dir reden wie mit einem Erwachsenen.
Je länger ich schreibe, desto mehr Erinnerungen bestürmen mich. Was warst Du für ein sensibles Kind! In sich gekehrt und hochsensibel. Ich weiß noch, wie ich mit Dir im Parc Bordelais spazieren ging. Am Rande des Parks gab es e ine Quelle, und wenn wir dorthin kamen, sang ich Dir das Lied »À la claire fontaine« vor. Bei der Strophe
Sing, Nachtigall, sing
Froh ist dein Herz.
Du jubelst vor Freude,
Ich weine vor Schmerz.
stiegen Dir schon die Tränen in die Augen, und bei dem Refrain
Ich hab dich geliebt
Seit langer Zeit,
vergessen werd ich dich nie.
fingst Du an zu weinen und sangst mit mir zusammen das letzte Wort, ein langgezogenes »niiiiiiie«, das Dich in tiefe Melancholie
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